Kanzeln, kanzeln, die Zettel müssen ab

Ich gehöre zu der altmodischen Sorte. Ich höre mir gern an, was Leute zu sagen haben. Und les‘ das auch gerne. Egal von wem. Egal wie bekloppt. Ich will das wissen. Je abstruser desto lustiger. Je heilig-ernsthafter desto lesenswerter. Je aufgeregter desto lol.

Das geht nur immer seltener. Weil das außer mir kaum noch wer aushält. Viele bei der Konfrontation mit Abseitigem oder auch dem schlicht Anderen sofort durchdrehen. Zumachen. Abblocken. In Schubladen stecken. Mit Labeln bekleben. Bei Corona zuletzt nochmal beschleunigt. Wie durch ein Brennglas. Sagste was, biste gleich was. Und viele dann lieber gar nichts mehr sagen. Das macht die Dinge fade so langsam. Was ich merke. Leute werden vorsichtig. Sagen öfter nix. Oder schreiben nix. Und relativieren dann schnell. Könnt‘ ja jemand falsch verstehen. Denn an sowas zerbrechen inzwischen Freundschaften. Also werden Worte in Watte gepackt. Spontan fahrlässig eingenommene Positionen zügig entkräftet. Langweilige Binsen in die Welt geblasen. Sich kaum mehr festgelegt. Man ängstigt sich jetzt, falsch verstanden zu werden.

Wie öde.

So ähnlich ist das auch im öffentlichen Raum. An Berlins Straßenlaternen. Früher eine Fundgrube abwegiger Standpunkte. Linksradikale. Truther. Flatearther. Prepper. Baumscheibenaktivisten. Veganer. Klimatröten. Verfolgungswahnsinnige. Autobahngegner. Straßenbahngegner. Kleingartengegner. Bezirksamtsgegner. Patrioten mit Migrationshintergrund (lol). Die kurzen Durchsagen aus Irrenhausen. Jemand, der wortreich gegen Psychatrie wettert. Den Senat für irgendwas beschuldigt. Die BSR. BVG. Oder seine Oma. Berlins öffentlicher Raum ein großartiger Spinnerreigen. Und immer schon wichtiger Content dieses räudigen Blogs. Ich sehe das, freue mich, knipse und halte damit fest.

Dass im Internet gelöscht, ausgeblendet, geblockt und gekanzelt wird wie blöd, auf dass am Ende auf den großen Portalen nur noch die amtlich zugelassene Meinung übrig bleibt, daran habe ich mich schon gewöhnt, deshalb melde ich mich bei so einer Sozialkloake voller Meldemuschis, tourettigen Brüllaffen und hyperernsthaften Anscheißern gar nicht erst an, weil mein Avatar da wohl keinen Tag überleben würde. Gemeldet, geblockt, ausgeblendet, gelöscht, ausradiert. Internet halt. Alle doof.

Seit Corona reißen sie jetzt aber auch meine Straßenlaternenzettel ab. Rechte reißen die Kommunistenzettel ab. Maskenzombies die Zettel der Maskengegner. Und alle zusammen reißen die Zettel aller sonstigen Spinner ab. Nicht mal das alte „Nazis raus“ bleibt hängen. Auf dass ich nicht mehr lesen kann, was die wollen auf ihren Zetteln. Dass die Verfolgung durch die CIA endet. Cannabis legalisiert werden muss. Alle bitte Hirse essen sollen. Putin schwul ist. Free Cuba. Free Tibet. Free Lina. Free Mumia. Oder man sich dem Kampf für Kurdistan, den Taliban, der Demo für Chile oder der örtlichen Yogagruppe anschließen solle.

Komme ich schwer mit klar. Immer dieses Abgereiße inzwischen. Da geht Kultur flöten. Stadtkultur. Subkultur. Stickerwirtschaft. Zettelwirtschaft. Kommunikation im öffentlichen Raum. Na was denn? Lasst doch mal wieder was hängen. Haltet das doch mal wieder aus. Sind nur Worte. Überall. Kann man sichtbar lassen. Hängen. Dranlassen. Freies Land. Freedom of speech. Blablabla. Ist nicht schwer. Liebe immerempörte Aktivistenkinder. Lieber ständig entzündeter Nachwuchs. Wahrheitspächter. Ideologen. Meinungsoffiziere. Dieser Welt. Ehrlich. Gebt mal Freiheit wieder. Gedankenfreiheit. Redefreiheit. Schreibefreiheit. Zettelfreiheit. Ertragt das doch wieder. Macht euch locker. Ihr schafft das.