Spätsommerblues / Streifzüge

In mir ist Dezember.

Rodi


Fuck the EU, murmele ich mir in den Bart und werfe den abgerissenen Deckel meiner Colaflasche in ein Gebüsch.

Es hat geregnet. Die Luft riecht nach nassem Hundefell. Blätter kleben an Läusepisse kleben an Gehwegplatten, in deren großzügigen Ritzen sich der Unrat sammelt. Einwegpappe. Strohhalme. Kaugummipapier. Kippen Kippen Kippen. Kaffeebecher. Jemand schreit. Das ist normal. Hier schreit immer jemand.

Ich bin jetzt viel unterwegs. Die Stadt gibt es her. Alles nur nicht die Bude. Auf der Marienburger Straße kommt mir einer mit einem Kinderwagen entgegen, in dem ein Gasbehälter liegt, der mich schmunzeln lässt. Isses schon soweit? Blüht der Schwarzhandel mit dem rufruinierten Zeug? Horten wir jetzt Kartuschen? Flaschen? Tanks?

In der Bierquelle oben Naugarder Straße sitzen die Trinker samstags um zehn schon, um das zu tun, was sie können: Trinken. Das Mühlenbergviertel, dem die Bierquelle gegenüber liegt, war mal ein klare Kante rechter Kiez. Aus Nachwendezeiten. Es gab eine Zeit robuster Auseinandersetzungen, als die Hools der umliegenden Saufkneipen zusammen mit den abgehängten Kadern aus den Plattenbauten Stress mit zugezogenen Ausländern gesucht und auf jeden Fall gefunden haben. Thomas-Mann-Straße. Schieritzstraße. Hosemann. Das waren die Geburtsschmerzen der neuen Zeit.

Die Lage ist längst geklärt. Die Greifswalder ist aufgeteilt zwischen arabischen Supermärkten, arabischen Spätis, arabischer Gastronomie, Läden für die biovegane Schickeria, denen der Kollwitzkiez zu teuer ist, und Bubble Tea kombiniert mit japanischen Waffeln, Thaimassagen und Sushi. Eine neue Zeit, eine neue Mische. Die alten Faschos sind abgetaucht oder sitzen jetzt morgens um zehn als überlebte, verfettete, rotpicklige Dinosaurier einer gestorbenen Epoche in der Bierquelle herum und rülpsen Sätze in eine Welt, die das Geseier so ernst nimmt wie das des vollgeschissenen Brabblers, der in der Pieskower in seiner eigenen Urinpfütze sitzt. Auslaufmodelle. Niemand nimmt die mehr für voll. Und niemand hat mehr Angst. Sie sind fett und alt und rotpicklig und haben Gicht. 

Ecke Grellstraße steht ein alter Mann, der aussieht wie Peter Scholl-Latour, der er nicht sein kann, weil Peter Scholl-Latour tot ist. Mir passiert das öfter. Dass ich Tote sehe. Oder alte totgeglaubte Freunde von vor zwanzig Jahren. Die ich manchmal anspreche. Sorry, hey, sag mal, heißt du Markus? Nein, sagen sie dann. Immer sagen sie nein. Es sind nie die alten Freunde, die ich in diesen fremden Menschen sehe. Meine alten Freunde sind weg. In alle Winde. Samir. Kai. Sabine. Tom. Was ich sehe sind immer nur Halluzinationen einer krepierten, aber nie begrabenen Epoche. Tot. Tot. Alles tot wie die Schießscharten ihrer widerwärtigen neuen Architektur. Das neue Tacheles in Mitte lässt die Hüllen fallen, schreiben sie triumphal, und mir ist so schlecht.

Tot. Töter. Der Nuke Club, den auch ich noch als K17 kenne, der eines der handvoll Zentren meiner kleinen Welt war. Gothic Friday. Nebelmaschine. Tullamore Cola. Patchoulischwaden. Der Kajal an meinen Augen, mehr hab‘ ich mich nicht getraut. Der nasse Kuss jener mit den Ketten, den Atomboots, der schwarzen Brille, dem schwarzen Lippenstift, der abfärbte. Zugemacht. Rausgedrängt. Der Ort nicht mehr da. Die Geschichten ausradiert. An ihrer Stelle bauen sie jetzt Eigentumswohnungen im Höchstpreissegment, während meine Orte verschwinden und die Erinnerungen an sie verblassen. Der Stille Don. Das Knaack. Auch die Greifbar oben Wichertstraße, die erste schwule Bar, in die ich mich tapsig reintraute damals, nach den ersten Schritten der Selbstsuche. Geschlossen. Die haben sich vom Coronamobbing nie erholt. Jetzt zapfen irgendwelche Abziehbilder auch hier bescheuertes Craft Beer, als gäbe es noch Hipster, die den Scheiß saufen.

Was machst du heute, Frau mit dem schwarzen Lippenstift? Lebst du noch?

In die S-Bahn hat die Anstalt für sozial Inadäquate wie immer ihre Freigänger entlassen. Brabbler. Sänger. Blöker. Stinker. Gunäää Gnääää Glglglgl. Wenn Sie in Berlin einen freien Sitzplatz in der S-Bahn sehen, müssen Sie vor dem Hinsetzen erst mal schauen, ob da keiner hingeschissen hat. Oder hingekotzt. Oder sein Tampon hat liegenlassen. Mettbrötchentüte. Oder der Dünnschiss durch die vollgekackte Hose auf den jetzt nicht mehr ganz so türkisen Sitz gesuppt ist. Am besten bleiben Sie stehen. Setzen sich nicht. Mit Noise Cancelling-Kopfhörern im Ohr. Damit Sie die Sabbler ausblenden. Die Brüller. Die Nöler. All die Akustikverschmutzer in Berlins stinkendem öffentlichen Nahverkehr.

Wenn einer der Aggrotypen in die Bahn kommt, deren Zahl mit zunehmender Knappheit der Güter merklich ansteigt, spüre ich, wie ich mich anspanne. Mit einem Angriff rechne. Den Winkel eruiere, in dem ich zurückschlagen werde. Den Fluchtweg plane. Ich habe Antennen für Stressmacher. Bemerke sie früh. Fange ihre Signale auf, quasi sobald sie ins Blickfeld geraten. Noch bevor sie sich allen anderen gegenüber – Gunäää Gnääää Glglglgl – mit ihrem theatralischen Schlagen an die zerkratzen Türscheiben des immer schlecht gelüfteten Wagens als Stressmacher outen.

Am S-Bahnhof Schönhauser sind die Scheiben eingeworfen. Monate schon. Sie werden nicht mehr repariert, sondern nur noch mit durchsichtiger Folie überklebt. Damit sich niemand verletzt. Oder der Versicherung wegen. Sonst bleibt das so. Broken-Windows-Theorien haben in Berlin wenige Anhänger.

Wenn die Menschen keinen Müll im öffentlichen Raum verteilen, tun es die Krähen. Aus den Mülleimern. Kotbeutel. Dönertüten. Kaffeebecher. Ich würde nicht bei der BSR arbeiten wollen. Die Erzählung vom Sisyphos ist ein Scheiß dagegen. Ein ewiger Kampf gegen Kot, Müll, Dreck und Leute, die ganze Bettengestelle im öffentlichen Raum drapieren.

Es sind viele geworden. Von den Verstrahlten. Ich habe das Gefühl, ganz Europa kippt seine Verstrahlten hier vor meine Haustüre. An den Hackeschen Markt. An die Warschauer. Bersarinplatz. Arnswalder. Jede Nacht steht jetzt ein neuer Schreier auf meiner Kreuzung. Schreit wie abgestochen. Stundenlang. Niemand holt den dort weg. Niemand kümmert sich. Niemand ist zuständig. Es ist wie mit den Scheiben. Das bleibt jetzt einfach so. Krakeel Krakeel. Ich nenne sie Werwölfe. Sie kommen, um den Mond anzublöken. Auf meiner Kreuzung. Nachts. Immer nachts. Die Anstalten voll. Das betreute Wohnen personal- und wohnungsknappheitsbedingt untauglich. Der sozialpsychatrische Dienst in Agonie. Und nachts gehen die Verstrahlten auf ihre Tour. Heulen. Klagen. Jaulen die anderen aus dem Schlaf. Weil nirgendwo mehr Platz für sie ist.

Der melancholische Kieztrip, der tägliche Wandertag, meine eigene Dampferfahrt und entspanntes Jump and run. Ich bin jetzt viel nachts unterwegs. Sehe das alles. Höre das alles. In der angenehmen Wärme des auslaufenden Sommers. Früher war es schön, wenn so ein Sommer warm werden sollte. Heute gemütsentzünden sich die Menschen und brechen in Panik aus und es erscheinen schon wieder neue Heilbringer mit neuen Heiligenbildchen bei den Evangelen, dabei ist das wie mit den Sommergewittern, bei denen die Presse schon Tage vorher den Weltuntergang ausruft, und jene, die politisch davon profitieren, die Sirene anwerfen im Kampf um Subventionen, Posten, Einfluss. In routinierter Rhetorik werfen sie ihre Schachtelsätze in die Arena. Tornados. Sturzfluten. Riesenhagel. Superzellen. Im Gefolge neue Verbote. Neue Einschränkungen. Neue Verhaltensvorgaben. Bürger! Disziplin! Ein Hitzeleugner, wer das nicht mitträgt.

Schnarr.

Schnarr Schnarr.

Rassel.

Ich höre das gefahrengeneigte Rasseln der Fahrradkette. Und da kommt er auch schon angeschossen hinter der Häuserecke. Schmerzensmannverzerrtes Gesicht. Ächzend. Anklagender Blick. Höre er, höre er. Mache er Platz. Der Kaiser auf zwei Rädern trägt die Last der gescheiterten Berliner Verkehrswende auf seinem Rücken. Deswegen darf der hier heizen. Auf dem Bürgersteig, der eigentlich meiner ist, ach ich dummer blinder Fußgänger, das weiß ich wohl, aber ich muss es hinnehmen, weil es der Berliner Radfahrer mit der verhärmten Hackfresse ist und der fahren darf wo er mag.

Geiler da nur die Typen, die mit einem Zentimeter Seitenabstand von hinten überholen, so dass Sie den Windhauch der Beinahekollision spüren, und dann die ersten sind, die dem Autofahrer an der Ampel aufs Dach hauen, weil das eben beim Überholen nur ein Meter Abstand und nicht die vorgeschriebenen Einsfuffzig war.

Besonders mag ich Fahrradfahrer, denen ich im Auto minutenlang hinterhergurken muss, und die, wenn ich sie dann endlich überholen konnte, an der nächsten Ampel mühsam rechts an mir bockschiebend vorbeikrebsen, um sich mir provokant direkt vor die Motorhaube zu stellen, womit sie neben der Gewissheit, exakt zweieinhalb Meter gut gemacht zu haben, das erhebende Gefühl haben, einem Autofahrer mal wieder gezeigt zu haben, was in Berlin im öffentlichen Verkehrsraum so alles an überflüssigen Affronts möglich ist.

Wer in Berlin keine Fahrradfahrer hasst, ist selber einer.

Ich bin auf Tour. Durch die Blocks. Um die Blocks. Raste auf freistehenden Plätzen. Besetze Parkbank um Parkbank. Habe Spätsommerblues. Das Gemüt hängt schief. Ruinöse Familie. Durchbrennende Freunde. Tode Tode Tode. Die ganze Sabotage zerkochter Vergangenheit als nie mehr verschwindender Ballast. Die neue Ärztin benennt die alte Diagnose mit der mir bisher unbekannten Bezeichnung Affektlabilität und nimmt mich aufgrund eines Seelenzustands aus dem Spiel, den ich selbst nicht als so dringend bewertet habe.

Ich bin ausgebrannt. Auf Autopilot. Akku leer. Kraft abgesaugt von zu vielen Energiefressern. Keine Aufladung available. Weil keine Zeit. Verpflichtungen. Termine. Meetings. Aufträge. Scheiß Geburtstage in scheiß Biergärten. Geschäftspartner. Geschäftsessen. Geschäftswagen. Flughäfen. Bahnhöfe. Blöde Tagungsräume voller Dummköpfe, die immer mehr Dummkopfrotze von mir wollen. Mehr als ich tragen kann. Nachts indes kaum Schlaf. Abgehackter Schlaf. Halbwacher Schlaf. Derbe unruhiger Schlaf. Wühl Wühl. Arbeit Arbeit. Ausfall Ausfall. Einspring Einspring. 10 Stunden. 11 Stunden. 12 Stunden. Immer lachen. Immer freundlich sein. Dabei der Bonus vertagt auf Herbst. Der Urlaub gekürzt. Weil’s die Lage nicht hergibt. Ausgefallene Leute vertreten. Gekündigte Leute vertreten. Den Scheißdreck der Anderen machen müssen. Huhu. Kannste mal kannste mal. Kaaaaaanste mal? Hier rein. Dort hin. Immer mehr. Ich brauche. Ich will. Wir müssen. Hey Ausputzer. Burn Burn. Out. Hals zugeschnürt. Tonnenplatte auf der Brust. Der Gedanke wieder, auszusteigen. Ganz auszusteigen. Derweil mir die üblichen Mechanismen gegen zudrückende Schwärze die Unterstützung versagen. Konzerte. Alleinsein. Rausnehmen. Viel laufen. Viel gehen. Die müdegespielten Augen geschlossen in den Spätsommerstrahlen des Mauerparks. Die Trommler. Raggaeton aus Boomboxen im Ohr. Was kiffen. No pasaran. Nichts schlägt mehr an. Die Energie verbraucht. Die Augenringe fahl. Der Akku auf Reserve. Das Gemüt geschleift. Das Hirn zu Brei. Die nicht kontrollierbare Träneneruption auf dem Weg in den Kubus, der mir das Geld zahlt. Noch ein Umweg. Noch ne Runde ziehen. Hoffen, dass mich damit keiner sieht. Warten bis die brennenden Augen abschwellen, dann weitermachen. Kaffee. Red Bull. Die Nase auf dem Spülkasten. Das ging doch immer.

Doch ich kann nicht mehr. Kann nichts mehr. Ich kann nicht mehr.

Folgt der Cut. Die Ärztin zieht die Leine. Sieht das. Stoppt das. Ruft wen an. Eine, die dringende Abkacker als Quereinsteiger nimmt. Klopp Klopp. Akut Akut. Weil’s eilig scheint. Ist. Und jetzt bin ich da wieder. Notausgang. Intervention. Therapie. Beware, my friends. Isses wieder soweit. Hatta wieder Limit, der Junge. Wieder nicht hingekriegt, die Kurve. Plattgelaufen. Zickezacke. Hoi. Tilt. Und raus ist der.

Es gab einen Tod, der mir zu schaffen macht. Einen Suizid. Unzweifelhaft der Auslöser von allem. Der Tropfen. Der fortgezogene Boden. Der Sturz. Der Dämmerzustand. Die verdampfte Energie. Ein junger Mann, den ich gut kannte. Der jetzt ein toter Mann ist. Einer der Sensiblen. Einer von denen, die unglaubwürdig plakativ gute Laune haben, eine gute Laune von der Sorte, die ich ihm nie abgenommen habe. Weil der Schauspieler immer den anderen Schauspieler erkennt. Ich habe im Rahmen einer der Gespräche, die doch mal kurz tiefer zu gehen schienen, zwei, drei Mal versucht, dort an der Stelle zu graben, an der ich Zugang vermutete. Um zu sehen, was wohl dahinter sein mag. Wo die schwarze, schwärende Stelle liegt, denn es gibt immer etwas, das schwärt. Wollte ihm die Hand ausstrecken. Weil ich’s gesehen habe. Weil die Fassade zu offensichtlich war, was nur einer rafft, der selbst mit solchem Fassadengespiel arbeitet. Weil sehr offensiv fröhliche Menschen fast immer eine ganz dunkle Seite haben, die sie kaschieren wollen. Müssen. Und das auch schaffen. Aber bei dem Typen nix. Nix zu machen. Sobald ich diesen Weg einschlug, an dessen Ende meine ausgestreckte Hand sein sollte, zog er zu. Gardinen. Rolladen. Panzerplatte. Kein Durchkommen.

So wie ich das auch immer mache. Ich hätt‘ ja auch zugemacht. Versteh’s doch.

Alles das. Zu viel von allem wieder. Als Konter der Kieztrip als Eigentherapieversuch. Vom Bersarinplatz zum Arnswalder. Ich bin hart drauf. Die Ohren zu mit Mucke. Baller‘ mir den Kopf zu. Das Noise Cancelling ein Segen. All diese Gewalt. Blind. Drei Mal hintereinander und der Text wird immer besser. Berlin-Ost. Keine Liebe. Junge was bist du durch.

Zum Überqueren der Landsberger übernehmen Gallas Holzfiguren und Leierkästen. Mit Sebastian Lohse an den Vocals. Galla lange schon tot. Begraben oder verbrannt. Würmer oder Asche. Niemand weiß das. Sind dann manchmal nur die Hooks, die von dir bleiben. Fool.

So viele Stories gibt es zu erwähn‘
So viele Stories, weit weg von jedem Fame
Von denen, die wissen, was es heißt, auf einem Bein zu steh’n
Du musst nur hinhör’n, hinseh’n, sie erzähl’n

Die Runde ist gegangen. Die Nacht schon wieder alt. Eine Ampel blinkt. Bistro Melis. Beste Döner. Zwei Araber bewachen eine Nachtbaustelle. Vor dem Volkspark eine Dinosaurierausstellung. Kippenreste. Kaffeebecher. Red Bull Juneberry. Ein Pärchen knutscht verloren an einem schiefen Straßenschild. Der Griff in die Hosentasche. Zum Schlüssel, der noch da ist. Mitternacht ist lange rum.


Ich kann’s Ihnen nicht verbieten, aber würde mich freuen, wenn Sie das hier nicht durch Ihre Timelines, Linklisten oder Foren nudeln würden.