Uckermark / 2021

Aber ich bin kein Wrack. Ich bin eine Havarie.

Judith Holofernes


Seit Corona bin ich oft in Brandenburg unterwegs. Das dritte Mal in diesem Jahr schon. Ich beginne Brandenburg nach all den Jahren des großberliner Spotts tatsächlich zu mögen und scheue das Buchen von weiter entfernten Zielen. Die Lage. Immer die nicht endende Lage. Die mir in Brandenburg überschaubarer scheint. Schließen die Durchdreher wieder Grenzen, Hotels, Verkehrsmittel, Sinne und Verstand, bin ich schnell wieder zuhause, statt in Nicaragua, Taipeh oder Lagos am Flughafen zu verrotten. Auch nimmt mir Brandenburg nie Vorauszahlung ab, wie andere, die das Geld dann bei coronabedingter Unmöglichkeit, die sie in den Medien Touristenverbot nennen, nur widerwillig wieder hergeben. Alles hinter mir. War nervig. Kein Bock mehr.

Brandenburg habe ich früher immer vermieden. Durch Brandenburg fuhr ich hindurch, wenn ich zu schöneren Orten wollte. Ich fand Brandenburg immer provinziell. Zurückgeblieben. Überflüssig. Dazu latent xenophob. Homophob. Generell phob. Ein Ärgernis. Jetzt ist Brandenburg meine neue Normalität. Wenn mir das immer entzündeter werdende Berlin auf die Nerven geht. Ein Wahnsinn geworden, diese Aggressivität in der Stadt. Von allen Seiten. Die Leute sind wund. Schubsereien vor dem Späti. Schubsereien in der U-Bahn. Schubsereien vor Fleischer Erchinger. Deutlich kürzere Lunten allerorts. Ist das bei Ihnen auch so oder ist das wieder mal original Berlin?

Achtzehn, vielleicht zwanzig Häuser. Zwei Ställe. Scheunen. Selbstgebaute Holzhütten. Ein alter Brunnen. Sonst Felder. Ich suche Stille in Brandenburg. Wald. Karge Wege. Abgeschiedenheit. Alleinsein. Zum Durchatmen. Kurz mal runterkommen. Ich möchte das so oft inzwischen, dass ich sogar schon Optionen abwäge. Irgendein kleines Haus klarmachen. Discountzinsfinanziert. So wenig Tilgung wie möglich, auf dass mir die kommende Inflation die Schulden abschmilzt. Paris. Athen. Auf Wiedersehen. Abgeschieden. Möglichst ohne Menschen in der Nähe. Niemanden mehr sehen müssen. Niemanden mehr hören müssen. Niemanden mehr ertragen müssen. Undenkbar früher. Jetzt ein Gedankenspiel, dessen konkrete Realisierung ich mir noch nicht gestatte. Ich bin noch nicht alt genug für Brandenburg. Zu viel würde mir auf Dauer fehlen. Meine Leute. Die Clubs. Die Bars. Die Drogen. Die Eskalation. Hier in Brandenburg eskaliert gar nichts.

Und ich hasse die Mücken im Sommer.

Der über Nacht gefallene Schnee schluckt die Geräusche hier im Outback. Bei den Hillbillys. Vom Rust Belt. Ich komme zügig zur Ruhe. Diese absolute Stille auf den abgelegenen Wegen wirkt wie ein Sedativum auf das kaputtgespielte Gemüt. Die nie in Frage kommende Option, irgendwo weit draußen einen Fluchtpunkt zu schaffen, rückt unbestreitbar näher. Ich werde definitiv irgendwann gehen. Mecklenburg. Uckermark. Lubuskie. Pomorski. Wenn ich genug zur Seite geschafft habe. Abflug. Raus aus dem Moloch. Das erste Mal wirklich dauerhaft raus aus dem längst nicht mehr coolen dicken B. Weit weg. Wald. Karge Wege. So wenige Nachbarn wie möglich. Dort passiert dann nichts mehr, so dass dieses dünndarmschwarze Mutantending hier irgendwann ein ereignisloses Fotoblog mit sinnlosen Knipsereien werden wird. Bäume. Farn. Sträucher. Hagebutte. Vogel auf Baumstumpf. Kuh auf Weide. Windkraftpropeller. Maulwurfshügel. Klick Klick. Schnarch Schnarch Schlumpf. Manifestierte Stinkelangeweile, die hoffentlich niemand mehr abonniert. Und ich glaube, ich werde das gut finden.

Dem Borgwürfel gefällt mein Wunsch nach Stille und Abgeschiedenheit überhaupt nicht. Dessen neue Normalität bedeutet, mich auch in meinen Abwesenheiten in einer bemerkenswerten Konsequenz permanent anzurufen, weil sie ja seit Corona immerhin mein Telefon bezahlen, im Austausch gegen die nun endlich durchgesetzte jederzeitige Verfügbarkeit. Jede Uhrzeit. Jedes Wochenende. Jeder Kurztrip. Jeder Urlaub. Alles verschwimmt ineinander. Auch hier jetzt. Im Wald. Ring. Ding. Mark? Mark? Nur ganz kurz, Mark. Ich weiß, du hast frei, aber die Kostenaufstellung. Mark. Mark. Die Kostenaufstellung für November. Ich finde die nicht. Finde sie einfach nicht. Jahresende. Schlussbilanz. Mark! Wir haben schon Dezember. Du weißt doch. Eilt. Ach, doch. Ha! Da isse ja. Haha. Mark. Haha. Hahaha. Ma-hark! Tschö. Klick.

So geht das.

Bis zum nächsten Klingeln.

Ring. Ding.

Mark? Mark? Nur ganz kurz. Mark? …

Die früher mal selbstverständliche, aber inzwischen komplett ausradierte Privatsphäre werde ich mir nach Corona wieder in harten Auseinandersetzungen von den ganzen verständnislosen Empathiebefreiten zurückholen müssen, die inzwischen auch Sonntags anrufen, wenn ich gerade mit einer Hand in der Hose und der anderen ums Scotchglas geklammert vor der Glotze chille. Das durch nichts mehr begrenzte Zugreifen auf den Mitarbeiter werden sie auch nach der pandemischen Multigüllezeit nicht freiwillig wieder hergeben. Niemand gibt einmal erhaltene Eingriffsrechte freiwillig wieder her. Die müssen immer zurückerobert werden. Das ist immer so.

Auch das private Berlin stört die Stille. Ruft an. Zu viele Leute wieder. Die bucklige Verwandtschaft. Übergriffige Fußballtrainerfreunde. Möchten reden. Corona nachbereiten. Wie geht’s dir, Mark? Was macht die Lunge? Geht’s wieder? Geht’s? Ja? Und sie sagen mir alle, was nun zu tun ist: Hol dir den Genesenenausweis! Hol dir den Genesenenausweis! Hol dir den Genesenenausweis! Hol dir den Genesenenausweis! Du bist doch doof! Doof! Doof! Doof bist du! Genesenenausweis! Hol! Dir! Den! Genesenen! Ausweis! Du! Dir! Hol! Sonst doof!

Phew.

Die Welt ist ein Irrenhaus geworden. Sowas kann doch nicht normal sein. Da rufen Leute eigens an, um mir zu sagen, was sie möchten das ich tue. Mark! Hab‘ gehört du willst dir keinen Genesenenausweis holen. Aber Aber Aber. Denk doch mal nach. Reinkommen Reinkommen. Überall reinkommen. CovPass-App. CovPass-App. Cov! Pass! App! Mit der kannst du überall reinkommen. Sechs Monate. Genesenenstatus. Willst du nicht überall reinkommen? Was ist mit nächsten Samstag? Wir wollen alle wieder. Essen gehen! Mit 2G. Ja, 2G. Du kannst dann da nicht rein. Bist dann nicht dabei. Hol dir doch den! Genesenenausweis! Hol! Dir! Den! Börps Börps. Schwall Schwall Gummiball. Was waren das noch für schöne Zeiten, als das, was ich tat oder unterließ, allen Menschen vollkommen egal war. Das ist zerstoben. Nicht mehr da. Gone with the wind. Seit Corona ist Privates hochpolitisch. Und muss dringend unter der Einwirkung möglichst vieler Leute geklärt werden. So ein früher mal völlig okayes „Nein“ zu dem, was alle tun, kann nicht mehr unbesprochen im Raum stehen bleiben. Hält keiner mehr aus. Bis der Anderling, der etwas nicht möchte, tut, was er soll. Also mischen sie sich ein. Insistieren. Lassen auch nicht ab, wenn ich sage, dass ich darüber nicht reden will, was nichts bringt, weil sie trotzdem reden und reden und reden und reden und irgendwann sind sie fertig. Dann bin ich frisch haltungsbesamt, mit den quer (ha!) durch die Gesellschaft gestreuten Blödmannlabels beklebt und sie sind zufrieden. Keine Ahnung was die Leute plötzlich antreibt. Ich komme mir inzwischen vor wie der letzte Mensch der Welt, der niemanden zu irgendwas zwingen will.

Danke, aber nein. Ich möchte diesen Genesenenbarcode nicht. Oder Ausweis, oder Passierschein, oder was weiß ich. Ich mag so etwas schlicht nicht haben. Lehne das ab. Ich finde die Idee dahinter würdelos und unterstütze ihre Einführung nicht. Wertigkeitsausweise. Passierscheine. Bändchen. Personengebundene QR-Codes. Markierung. Separierung. Eingruppierung. Ich habe mich das in den letzten knapp zwei Jahren Irrenhaus schon ein paar Mal gefragt und je mehr solcher Ideen sie haben, desto öfter frage ich mich das: In so einer Welt wollen sie leben? So wollen sie das haben? Das tut mir dann leid, da kann ich nicht mitspielen, denn es schüttelt mich und dem entziehe ich mich so weit ich kann. Auch wenn das bedeutet, die nächsten drei Jahre nirgendwo mehr eintreten zu dürfen, Bleimonat für Bleimonat weiter vor dem kleinen fahlen Monitor isoliert in meiner Ecke des Wohnzimmers mit irgendwelchen seelenlosen Zoomavataren zu kommunizieren und nur noch von allen möglichen Lieferungen zu leben. Das ist dann eben so. Das nehme ich hin. Halte ich auch aus. Ich finde diese brutale Vereinzelung gar nicht so schlimm inzwischen, im Gegenteil, ich komme vergleichsweise gut klar. Kaum Menschen. Das ist gar nicht mal schlecht. Jetzt müsste nur noch dieses Telefon kaputt gehen.

Ich komme abends in meiner Küche mit einer Nachbarin dieser gemieteten Butze ins Gespräch, die sich selbst auf ein Bier eingeladen hat. Sie ist Ü40, schlecht tätowiert und Bestandteil einer vergifteten Kleingartenkolonie in der Nähe. Diese Kleingartenkolonie aus irgendwas um die 40 Parzellen zerfetzt sich seit vielen Jahren um Nichtigkeiten. Prozesse. Urteile. Kontaktverbote. Näherungsverbote. Einstweilige Verfügungen. Viele gegen viele. Dauernde Auseinandersetzungen, von denen die meisten mit Nichtigkeiten begannen, die dann verschleppt wurden. Wurzeln auf dem Nachbargrundstück. Laub. Aber auch nichtflorale Dinge. Parken an der falschen Stelle. Zu lautes Geselligsein nach 21 Uhr. Rauch von der Feuerschale. Kreischende Kinder. So Dinge. Übelnehmer verklagen Übelnehmer, weil sie übel nehmen.

Aber der ultimative Spaltpilz für den Gand Canyon aller Spaltungen war, dass Einer einer Anderen mal besoffen an die Titten gepackt hat, die das geil fand und ihn am Schwanz gepackt hat. Nur deren Mann fand das nicht gut. Die Angelegenheit schaukelte sich dann hoch. Ping. Pong. Wieder Ping. Mit Fraktionenbildung. Quer durch die Kolonie der schlecht Tätowierten. Jetzt gibt es zwei Lager. Das Lager des Tittenpackers. Das Lager des Gehörnten. Allein aus dieser Nummer entwickelten sich mehrere Gerichtsprozesse, die bis heute nicht abgeschlossen sind. Und bis dahin kommen vermutlich noch mehrere dazu. Ein ewiger Graben. Nur wegen des Tittenpackers. Und der Schwanzpackerin. Lustig ist das Dorfleben. Kleingartendings. Kleinhirnhasen. So läuft das manchmal. Irre. Mir ist das so fremd und ich höre zu als wären es Geschichten über uralte afghanische Stammesfehden.

Je mehr besoffen, desto mehr erzählt sie und erzählt sie und desto dichter kommt sie ran. Zu dicht. Wir sind bei fünf statt der üblichen fünfzig Zentimeter Abstand. Sie ist verheiratet. Wenn da was läuft und das rauskommt (kommt immer raus, sowas), mobilisiert der Mann, sie nennt ihn Männe, bestimmt seine ihm loyale Hälfte der schlecht tätowierten Kleingartenkolonie, jagt mich mit seinem alten Wehrmachtsmofa über die verschneiten Rapsfelder, um die Vendetta später mit Hilfe von Schwippschwagern, freiwilligen Feuerwehrkumpels und den versammelten Dorfkötern bis nach Berlin auszuweiten. Dann stehen die Hillbillys mit Teer, Federn, Fackeln und Mistgabeln im Bötzowviertel. Besser Finger weg. Ich rutsche fort. Sie rutscht nach. Ich schütze Termine vor. Sie umarmt. Ich stehe auf. Leider leider. Ich muss noch was arbeiten (nein, muss ich nicht, ich will nur weg). Wirklich. Ich muss dann mal. Nach hinten. An den Laptop. Sorry. Tschö. Ja. Tschö. Und besser so. Gut gemacht. Immer wenn ich besoffen bin, könnte ich sogar was mit Frauen anfangen, was mich zu einer klassischen Suffhete macht (ballyho, das Wort gibt’s noch nicht, here we go, Moe) und gefährlich ist, weil das mit Frauen und mir nie gut geht, sondern immer wahnsinnig anstrengende Monate fabriziert. Bis ich schließlich wegrenne.

Ihr Sohn, der nicht nur einen Narren, sondern eine ganze Horrorclownarmee an mir gefressen hat, zeigt mir am nächsten Tag, was die jungen Leute so auf YouTube und Insta schauen. Irgendwas mit Katzen. Ich verstehe keinen Gag davon. Alles geht meilenweit an mir vorbei. Ich habe komplett jeden humoristischen Anschluss an die Jugend verloren, während der Sohn sich einen Kullerkeks über diese absurden Videoclips ablacht, rolling on the floor laught ohne Ende, nur bei mir geschieht humormäßig gar nichts. Dear Beluga. 6,54 Millionen Abonnenten. Ein Superstar. Keine Ahnung, wie die jungen Leute darüber lachen können. Keine Ahnung auch, warum ich keine Ahnung mehr habe. Obwohl doch, ich weiß: Weil ich beginne, alt zu werden. Sie erkennen das auch an der Formulierung „die jungen Leute“.

Corona interessiert die jungen Leute sowas von gar nicht. Ich habe gefragt. Egal. Spielt keine Rolle. Die richten sich ein. Unterlaufen die unzähligen Regeln zum eigenen Vorteil wo sie können und gut. Junge Leute sind flexibel.

Viel existenzieller ist, dass der nichtsnutzige Vater seinen Sohn kein TikTok auf dem Smartphone installieren lässt. Wegen der Chinesen. Denen sei nicht zu trauen. Mindestens ein junger Mann im Raum findet das übertrieben. Mein Kind zuhause in Berlin hat natürlich TikTok. Ohne TikTok sind Sie raus aus allen Kommunikationsknoten. Haben Sie kein TikTok, sind Sie in dem Alter uncool und ich lehne es ab, dass mein Kind uncool ist. Sollen die Chinesen doch überwachen was sie wollen. Mir doch latte. Ist doch eh egal geworden alles. Von mir aus können die mein Darminneres ausleuchten, vermessen und registrieren, die Wichser, was juckt mich das.

„Was hörst du denn für Musik?“ fragt der junge Mann, um meine Antwort „Red Hot Chili Peppers“ mit „Oh. Das ist alte Musik, oder?“ zu kontern, nachdem ich ihm was von denen vorgespielt habe. Ja. Alte Musik. Du Zottel. Als die Chili Peppers ihren Zenit hatten, war der junge Mann noch eine vernachlässigbare Zelle im Samenstrang seines Vaters. Zeit. Rennt. Rast. Zu schnell immer.

Zurück bleibt das Alteisen. Altöl. Der Althonk. So ist das Altwerden. Meine Musik wird alt. Meine Frisur wird alt. Meine Klamotten werden alt. Meine Befindlichkeiten werden alt. Alles an mir wird ab jetzt alt. Denn da sitzt der 13jährige. Von dessen Welt ich jetzt schon keine Ahnung mehr habe.

Und die Red Hot Chili Peppers haben weniger Abonnenten als Beluga, die Katze.

Letzten Endes besteht das Älterwerden aus dem allmählichen Aufgeben von Träumen. Sagte mir Lissabon, die Frau mit den schönsten schiefen Zähnen der Welt, vorgestern abend in der ansonsten quälenden letzten Staffel von La casa de papel. In solche Sätze kann ich mich verlieben.

An einem weiteren Abend lande ich auf irgendeinem Hof. Äpfel kaufen. Eier. Grünzeug. Brandenburg ist offen und herzlich geworden mit zunehmenden Alter. Lädt den Fremden ein. Komm doch vorbei später. Bierbänke. Heizpilze. Wurstplatte. Zapfanlage. Selbstgebrannter. Ich komme gut klar mit den Leuten. Auch wenn das Thema irgendwann wieder auf die scheiß Impfungen kommt, was mir in einem gar nicht mehr darstellbaren Ausmaß zum Hals raushängt. Die Bierbank zeigt kaum Dissens: Wenn sie dich zwingen, wat willste machen. Irgendwann kommense mitte Polizei. Oder scheißen dich mit Bußgeldern zu, biste pleite bist. Bringt ja auch nix. Und das sehe ich auch so. Man kann nur versuchen, die Niederlage so aufwändig wie möglich zu machen, das Brechen des Willens für die zumindest teilweise Erhaltung der Selbstachtung so lange wie möglich hinaus zu zögern. Alles darüber hinaus ist Selbstverstümmelung und führt auch zu nichts. Denn jeder bewundert Märtyrer, aber keiner will einer sein. So irgendwie sage ich das, worauf einer Scheiß Staat brummt. Gefolgt von dem Brummen zweier anderer. Lol. Doppel-Lol. Scheiß Staat. Das hätte ich mir vor fünfzehn Jahren nicht träumen lassen, dass ich irgendwann bei Wurst, Bier und Schnaps unter Heizpilzen in Brandenburg hocke und irgendwelchen Rednecks zuhöre, wenn sie sagen „Scheiß Staat.“

Aber was weiß ich schon, was sie zu dem gemacht hat was sie sind. Ich weiß zum Beispiel nicht, zu welchen lokalen Dorfangelegenheiten der Staat hier so alles eine Meinung hat und die Leute damit nervt. Fallobsterlass. Laubfarbentrennverordnung. Hagebuttenbuschstutzbescheid. Spitzmausflohwiesenschutz. Krötenwandertunnelwegenetz. Das Einmischen in alle Details der persönlichen Umstände ufert ja aus inzwischen. Weil so ein Verwaltungswasserkopf die Eigenschaft hat, sich nie selbst abzuschaffen, sondern sich selbst immer neue Aufgabenfelder zu erschließen, mit denen er den Leuten, die ihn bezahlen müssen, penetrant auf den Sack gehen kann. Wie die ganzen Betriebsbeauftragten inzwischen. Für jeden Scheiß. Brandschutz. Datenschutz. Diversity. Qualitätsmanagement. Controlling. Oder ganz schlimm: Arbeitsschutz (huhu, lieber Pupsimark, hier ist deine Arbeitsschutznanny, weißt du schon, neue Verordnung, das Kabel darf da nicht liegen, nicht dass du da drüber fällst, dann hast du ein Aua, butschigu). Boh. Grässliche Leute. Arbeitsschutzbeauftragte sind nie fertig mit Rumnerven. Die finden immer was. Und wenn es im hintersten Eck der Schublade ist, weil da eine Schraube zwei Millimeter rauslugt, an der ich mit dem Fingernagel hängenbleiben könnte. Schlimm. Schlimme Menschen. Niemand mag Arbeitsschutzbeauftragte. Arbeitsschutzbeauftragte sind wie Fußballtrainer. Niemand will die in seiner Nähe haben.

Irgendjemand auf dieser Bierbank erzählt mir, dass die Regierung irgendwo hier ein Gästehaus für Staatsgäste unterhält. Und dass George Doppelplus Bush schon mal hier war. In der Uckermark. Als Gast der Merkel. Dann wirft einer ein, dass die Merkel ja jetzt weg ist. Kurze Irritation im Raum. Wie, die Merkel ist weg? Ja, weg. Stimmt. Die ist weg. Ein komisches Gefühl ist das. Dass die weg ist. Weil die ja immer da war. Ich sage das so und ernte allgemeines Nicken. Aus irgendeinem Grund finden es die Rednecks schade, dass die Alte jetzt nicht mehr da ist. Ich schiebe es auf den Lokalpatriotismus. So ein bisschen heimlicher Stolz der Uckermärker auf die Uckermärker Kanzlerin wird da schon mit dabei sein, vor allem weil die nächsten 800 Kanzler wohl wieder aus Westdeutschland kommen werden. Hamburg. NRW. Pfalz. Niedersachsen. Von drüben. Wie immer. Da kann man als Uckermärker die Uckermärker Alte schon mal vermissen.

Am letzten Abend bereite ich mich aufs Chillen vor und freue mich auf sanfte Momente mit mir und sonst niemandem. Reggaeplaylist in der Boombox. Gutes Gras im Verdampfer. Doch nein. Klopf Klopf. Kommt der Vermieter rein. Als ich gerade die Buffmaschine anwerfen will. Nabend! Und fängt aus dem Nichts an, Anekdoten von seiner Frischluftheizung für seinen Camper zu erzählen. (Was faselt der da?). Wie die Luft von unten reingezogen würde. (Häh?). Unten am Fahrzeug warm gemacht werden würde. (Wat is?). Dadurch hätte er auch bei minus 12 Grad warme 18 Grad im Camper. (Alter was will der?). Was einem in Norwegen am Fjord schon mal den Arsch retten kann. (Mann Dude, geh weg, ick will in Ruhe buffen un’n chillen, du Campingvogel.). Aber er geht nicht. Labert noch eine qualvolle Stunde weiter. Campergarn. Wohnmobilfolklore. Die reinste Körperverletzung. Folter. Ein Affront. Da haben Sie einen fertig präparierten Verdampfer in der Tasche und die Welt könnte ohne einen anderen Menschen im Raum so perfekt sein, aber das ist sie nicht, weil diese Campergurke schlecht tätowiert in seinen beigefarbenen Crocs hier steht und mir Dinge erzählt, von denen mir Füße, Hoden und Hirn abfaulen. Campingwagen. Fjorde. Frischluftheizung. Himmelgütenochmal. Aufhören, Kerl.

Am letzten Morgen verursache ich kurz helle Aufregung in der kleinen Dorfgemeinschaft. Auf der Laufrunde auf dem Waldweg, den ich wegen seiner Abgeschiedenheit liebgewonnen habe und dessen legendäre Brandenburger Luft mich auf kaum zu fassende postcoronale 16 Kilometer gepusht hat, versuchen mich die Gastgeber telefonisch zu erreichen, aber mein Telefon habe ich absichtsvoll stummgeschaltet, weil irgendwann auch bei mir mal gut ist. Als ich zurückkomme, schütteln sie die Köpfe. Sind besorgt. Haben sich Sorgen gemacht. „Mark! Wir haben angerufen und du bist nicht rangegangen.“ „Öhm ja, stimmt, wieso?“ „Na du bist fast zwei Stunden weg gewesen. Wir dachten es ist was passiert. Du kennst dich ja hier nicht aus. Und du hast doch auch Corona gehabt.“ Was ich vorgestern zur Schlachteplatte nebenbei als Bonmot erzählt habe, was eine Reaktion wie bei Weltkriegsüberlebenden nach sich zog. Ooooh. Aaah. Au weia. Oh nein. Oh Gott. Meine Güte. Er hat Stalingrad Corona überlebt. Allgemeine Respektsbezeugung. Ernsthafte Ehrfurcht. Huhu. I’m a survivor. Da ruft man besser mal durch und fragt nach. Nicht dass der Gast irgendwo zwischen Acker und Krume kollabiert ist. An Postcorona. Longjohncovid. Propellerkarls Drüsenfieber. Man hört ja so viel.

Zirp Zirp.

Ich muss das mit dem Landleben nochmal überdenken. Solch sorgenvoller Dorfgemeinschaft wegen. Die aufpasst, dass kein Schäfchen verloren geht. Die Herde beisammen hält. Immer kuckt, ob alles okay ist. Nah rankommt. Jeden Einsiedler in die Sippe einnordet. Was das Gegenteil von dem ist, was ich will. Mit Menschen, die sich Sorgen um mich machen, kann ich nicht umgehen. Also muss das mit Brandenburg und Land und Dorf und dauerhaft mir nochmal überdacht werden. Alles überdenke ich nochmal. Ich habe es ja nicht eilig.

Als das ekelhafteste Gesöff der Woche wird mir auf ewig eine Flasche Coca Cola mit Zimtgeschmack im Gehirn hängenbleiben. Zimt an sich ist ja schon eklig. Das überflüssigste Gewürz der Welt. Zimtsterne. Eierkuchen mit Zimt. Irgendwelche stinkenden Zimtfenchelyogitees ayurvedischer Stumpfmütter. Jetzt Zimtcola. Junksuff vom Feinsten. Ein grässliches Zeug. Wenn ich davon impotent werde, ist das vollkommen folgerichtig meine eigene Schuld. Sowas trinkt man ja auch nicht. Ich habe idiotischen Bourbon reingekippt, dann ging’s. Und ich hab’s nur probiert, damit Sie’s nicht probieren müssen.

So geht das Jahr wundgescheuert zu Ende. Unerträglicher noch als das letzte Seuchenjahr. Dünnhäutiger. Lauter. Verzerrter. Entzündeter. Noch unlogischer. Ihr alter Gesellschaftsentwurf ist in dieser ersten echten Bewährungsprobe eine Havarie. So viele Gesichtsverluste. Blanke Nerven. So viele zerschnittene Tischtücher. Krakeele. Gekloppe. So viel Fanatismus. Übergeschnapptheit. Alles unerträglich laut. Eine fürchterliche Zeit. Dumpf. Endlos primitiv. Zum Wegrennen und nie mehr anhalten. Wie lange das noch so gehen soll, sagt keiner. Und weiß keiner. Monate wohl wieder. Bis Frühling. Oder Ostern. Oder gleich Jahre. 2023. 2024. 2025. Ein Blindflug ohne sichtbare Landebahn in der Blase immer noch billiger Marktkredite. Während draußen auf dem Schlachtfeld die Granaten fliegen und niemand Gewinner sein wird. So dass ich mich eingegraben habe. Mit den üblichen fünf, sechs Verstrahlten den vergifteten Winter so überstehe wie den letzten. Gammelnd vor der Konsole in Ecken von durchgelegenen Sofas als wäre ich wieder 15. Oder draußen im Outback. Ein Tagedieb ohne Ziel. Allein. Wind. Wald. Wege. Bis vielleicht doch irgendwer irgendwann von irgendwoher die Perestroika ausruft und das Eis schmilzt.