Der Feueralarm

Die Personaler des Borgwürfels organisieren ab und zu einen probeweisen Feueralarm. Wahrscheinlich immer dann, wenn ihnen gerade langweilig ist oder sie zu lange keine ihrer Mitmenschen mehr gestresst haben.

Natürlich geht bei so einem Probefeueralarm alles schief. Die eine Sorte Borgdrohnen rennt in völliger Auflösung jeder Selbstachtung kreuz und quer und gerne ineinander rein. Die andere Sorte chillt, packt erst mal entspannt das Notebook ein, speichert die Powerpoint ab oder geht nochmal kurz pissen. Oder kacken. Oder onanieren. Die Herde besteht größtenteils aus Panikern oder Verpeilern.

Außer mir. Aber ich bin gar nicht da.

Ich sorge schon seit Jahren für einen zeitintensiven Außentermin, wenn ein zu probender Feueralarm ansteht. Weil ich die Leute nicht ertrage, wie sie sich verhalten wie Grundschüler, zu denen sie wieder werden, wenn irgendwas die eiserne Routine durchbricht und sie wahlweise giggelnd oder blökend wie Pennäler das Treppenhaus runterlaufen. Fehlt fast noch, dass sie sich in Zweierreihen an die Hand nehmen und Aramsamsam singen, während die Querulanten aus Protest gegen die Naziregeln im Brandfall auf die Knöpfe der beiden maroden Aufzüge drücken, weil sie wissen, dass man im Brandfall keinen Aufzug fahren darf, aber ihr Aufzugfahren bei einer Übung als Statement gegen das Establishment anerkannt haben wollen.

Boar. Die Leute, Alter.

Woher ich den Termin für den Probefeueralarm kenne? Sehr einfach: Ich bin gut vernetzt. Ich bekomme den Termin immer Tage vorher gesteckt, so dass ich mich rechtzeitig abseilen kann.

Es gibt drei neuralgische Punkte für Firmengeheimnisse und wenn Sie sich mit diesen neuralgischen Punkten vernetzen, kommen Sie auch abseits von Feueralarmen immer an die brandheißen Informationen:

1. Vorzimmer/Sekretariate

Die wissen alles. Am meisten von allen. Die wissen, wann der Chef sich zuletzt im Klo einen runtergeholt hat und es deshalb eine gute Zeit für die Frage nach dem diesjährigen Bonus ist. Die wissen, wenn seine Alte den zuhause heute früh gestresst hat, so dass es ein guter Tag dafür ist, heute nur Außentermine zu machen. Vorzimmer stecken Ihnen wichtige private Details aller möglichen Leute, stecken Ihnen die Gunst, in der Sie stehen (oder nicht stehen), stecken Ihnen die Namen der Verlorenen auf der Abschussliste, von denen Sie sich fernhalten sollten, wenn Sie nicht der nächste Abgeschossene werden wollen, Vorzimmer geben Ihnen unter der Hand Termine, die andere nicht bekommen.

Merken Sie sich die Geburtstage der für Sie zuständigen Vorzimmer. Keine Blumen bitte, weil zu schleimig. Nur gratulieren, das macht Sie sympathisch, ohne dass Sie wie eine der Wanzen wirken, die aus zu offenkundiger Motivation heraus klebrige Komplimente zu Hosenanzügen machen oder gefüllte Pralinen schenken, die keiner mag. Blumen und Pralinen hin oder her. Niemand mag Wanzen. Seien Sie also keine.

Machen Sie Konversation, auch wenn Sie der private Schlick der Vorzimmernattern einen Scheiß interessiert. Neuer Macker. Kind heiratet. Bandscheibenvorfall. Scheißhauslüftung kaputt. Hund hat Würmer. Nachbarin ist doof. Warze am kleinen Zeh. Egal. Heucheln Sie Interesse. Für deren ganzen Konversationsschlamm. Und streuen Sie eigenen Schlamm ein, von dem es okay ist, wenn er weiterverbreitet wird. Quid pro quo. Denn es zahlt sich in barer Information aus. Merke: Erst Warzen und Würmer, dann das Kompromat.

2. Die Raucher

Die abseits der Vorzimmer hilfreichsten Informationen hatten schon immer die Raucher, wobei das am Abklingen ist, je mehr man sie reglementiert und gängelt und an den Rand hinten am Zaun zu den Papiermülltonnen drängt.

Raucher wissen deswegen eine ganze Menge, weil da Menschen aus allen Bereichen des Borgwürfels zusammenkommen, die sonst nur per E-Mail oder auf Zoom miteinander zu tun haben. Buchhaltung, die Personaler, der Vertriebslackaffe, Azubis, der Dummkopf von Pförtner. Denen der persönliche, fast schon körperliche Kontakt immer schnell die Zunge löst. Und jeder hat Dreckwäsche aus seinem Kabuff dabei, die mit anderen durchgewalkt werden muss. Ihr Glück, wenn Sie rauchen. Sie sind voll drin im Informationskanal, ohne dafür mehr tun zu müssen als verglimmende Stoffe zu inhalieren.

3. Der Hausmeister

Der Hausmeister ist in den meisten Borgwürfeln eine verkrachte Existenz. Er ist irgendwann mal durchs Raster gefallen und das Ding hier ist seine letzte Chance vor der Kiste, seine Endstation. Ex-SED-Bezirksknecht, wegen Bandscheibe ausgemusterter Lastkraftwagenfahrer, resozialisierter Knacki, Ex-Kreuzberger Crackhead oder aus Disziplinargründen entlassener Bundeswehrsoldat. Der Hausmeister hat als einziger im Laden einigermaßen akzeptable politische Ansichten, wird aber von den meisten Leuten gemieden, weil seine Ehrlichkeit niemand, dessen Profession das täglich möglichst effiziente Heucheln ist, erträgt.

So ein Hausmeister weiß alles. Er kennt die ganzen Sauereien, weil er immer irgendwo hinter einer Gardine, unter einem Schreibtisch oder in irgendeinem Schacht rumlümmelt, wenn gerade eine Sauerei passiert oder über eine Sauerei berichtet wird.

Und ganz wichtig: Der Hausmeister kennt den Termin für den Probefeueralarm, weil er die Fluchtwege vorbereiten muss.

So war das bisher.

Ist aber nicht mehr so.

Zumindest nicht heute.

Perfide ist es, wenn sogar der Hausmeister nichts weiß, weil irgendeine Scheißconsultingeffizienzarschgesichterfirma ihre eigenen Consultingarschgesichter mitgebracht hat, die mal zur Auflockerung eine überraschende Gebäuderäumung unter Realbedingungen testen wollen und deshalb niemand, absolut niemand meiner Informationsquellen, nicht mal der Hausmeister, irgendetwas von dieser gerade stattfindenden Räumung weiß. Was für ein Scheiß. UUUUUUUIIIIIIIIIIIIII FIEP FIEP FIEP FIEP. Was für ein … Shit. Ich habe keinen Außentermin, hänge mit Kaffeetasse im verdammten Gebäude ab, wollte nach dem Kaffee schön kacken gehen und jetzt blökt der Fliegeralarm los.

UUUUUUUIIIIIIIIIIIIII FIEP FIEP FIEP FIEP.

Dammit.

Natürlich bricht das vollkommene Chaos aus. Dieses Mal geht keiner pissen, sondern alle stürmen zum Treppenhaus, als gäbe McDonalds am Ostbahnhof heute freien Big Mac aus. Ellenbogen. Irgendeine Schnepfe tritt mir mit ihrem Absatz auf den Fußrücken. Keiner hält irgendeine Tür auf. Irgendwer knallt gegen die ausfahrbare Feuerschutzwand.

Unten an der Sammelstelle braut sich ein perfekter Sturm aus Leibern zusammen. Vollkommen planlos. Eigentlich sind Leute eingeteilt, die im Ernstfall neongelbe Westen tragen und die Leute dirigieren sollen. Mit Vertretungsregelung, falls Urlaub. Oder krank.

Doch nix. Keine Westen. Völlige Konfusion. Körperstau. Gedrängel. Geschubse. Leute bleiben stehen. Die dahinter stecken im Fluchtwegtreppenhaus fest. Und auch keine Führungskräfte sind zu sehen, deren Aufgabe es eigentlich ist, ihre heute anwesenden Schäfchen zu sammeln und zu zählen, damit keiner verloren geht. Nix. Einer raucht ’ne Kippe, der Nächste brüllt in sein Smartphone, ein Anderer hat seinen Laptop mit runter gebracht und arbeitet im Schneidersitz auf Akku weiter. Ob da jetzt einer derer, für die er auf dem Papier (und sichtbar auf dem Gehaltszettel) die Verantwortung trägt, verkokelt, verbrennt, verraucht, spielt keine Rolle, weil – hey – die Powerpoint fertig werden muss.

Meine bis zur Stufe ihrer Unfähigkeit beförderte Führungskraft sehe ich gar nicht, sondern erst später, als alles vorbei ist, wieder auf dem Büroflur, als er mir strahlend berichtet, dass er nach dem Auslösen des Feueralarms hinten in diese neue hippe Espressobar gegangen ist und ich den White Flat unbedingt mal probieren müsse. Den bekomme man nirgendwo besser.

Ob irgendwer seiner Leute dem vorgeblichen Inferno entkommen ist, weiß er nicht. Muss er auch nicht. Der Führungsschlumpf. Wird hier bei uns nicht verlangt. Aber immerhin weiß ich jetzt, wo es den besten White Flat gibt. Ich werde den bei Gelegenheit probieren. Der Typ kann zwar nix, verdient aber so viel, dass der weiß, in welcher Bar was gut schmeckt. Immerhin. Haben Sie denn noch Erwartungen an Menschen? Hoffnungen? Einen Rest Optimismus? Ehrlich? Im Ernst? Was stimmt denn mit Ihnen nicht? Get a life.

Ich finde, man sollte diese Effizienzarschgesichter dieser Consultingbutze rausschmeißen. Ich will nämlich die alten verschlumpften Feueralarme wieder haben. Deren Termine der Hausmeister kennt. Wonach ich sie auch kenne. Und meinerseits Termine mit irgendwem da draußen machen kann. Einfach damit ich diese Leute hier drin alle nicht sehen muss.