Feldberg / 2023

Der Mensch, der krank ist, zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und dass sie dadurch, durch diese Friktion, Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja, wie der Schmerz, nur ein Anzeigen, dass etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat.

Erich Fromm


Bum Bum. Stadtgrenze. Die letzten Takte. Der fossile Motor heult. Das Hauptstadtloch verschwindet im Rückspiegel. Ich gehe auf Tour. Wenn die Therapeutin sagt, dass ich eine Auszeit einlegen soll, dann lege ich eine Auszeit ein. Immerhin ist die vom Fach und ich nicht. Ich bin nur der Endanwender, kein Analyst. Dafür der mit dem sechswöchigen Gelben. Schwing Schwing. Mir reicht’s. Der Gülle genug. Macht euren Scheiß alleine. Ich bin raus. Rausfahr’n. Runterfahr’n. Ich muss weg hier.

Das menschenleere Mecklenburg-Vorpommern eignet sich am ehesten fürs Abtauchen. Ich fahre ganze halbe Stunden ohne irgendein Auto oder Trekker oder überhaupt Menschen zu sehen über holprige Wege aus uralten Steinen, auf denen der alte Fritz noch geritten ist und die keine EU jemals sanieren wird. Holter. Dipolter. Die armen kleinen koreanischen Stoßdämpfer des lausigen Mietwagens, den ich plane erst später in Rostock loszuwerden, ächzen arthritisch.

Feldberg. Diese Leute. Trekkingsandalen. Ledrige Fußrücken voller Aderdeltas. Rüstige Rentner mit bunten Fahrradhelmen. Sinnlose Walkingstöcke, die sie hinter sich her ziehen. Shorts, aus denen dürre zähe blasse haarlose Gehfäden ihre letzten Wege gehen. Hechtmatjes im Alten Zollhaus. Der Waldbeerkäsekuchen der Tortenmarie hüben am Hang. Die Ruhe, die Luft. Ich erwische mich dabei, dass es mir hier gefällt. Und ich komme eigentlich aus Neukölln …

Beim Frühstück dieser furchtbare, von Altmännern in unfassbar hässlichen Riemensandalen dargebotene Gruß auf Endlos: Mogän. Mogäään. Mogääääääään. Als wäre das hier ein Büroflur.

Sie fallen alle über das Mett her. Und über die Matjes, die hier perverserweise zum Frühstück feilgeboten werden. Aalrauchmatjes. Lilaglänzend von der Sonne angestrahlt. Aalrauch. Aalrauch. Analrauch. Hahaha. Ich weiß selber nicht, wie ich auf sowas komme, während ich das frische Obst mit Joghurt überschütte. Menschen nerven mich und ich möchte sie gerne abschrecken. Damit sie kein Mogääään mehr zu mir sagen.

Feldberg. Angelbedarf. Ein Modeladen. Ein paar Cafés. DHL-Transporter. Edeka meets Lidl. Zwei Jungs auf einem Moped ächzen mühsam einen Hügel hinauf. Der Döner kommt hier zu sechs Euro. Davor eine Mutter, die ihr Kind passiv-aggressiv zu erziehen versucht und scheitert wie passiv-aggressive Mütter immer scheitern. Et tu, Feldberg, et tu.

Ich kann darüber hinaus Frauen über 40 nicht ernst nehmen, denen knallrote Kirschohrringe an dünnen grünen Stielstäbchen von den Ohren hängen. Das gilt in selbem Ausmaß für untersetzte alte Männer mit Stoppelfrisur und Biertitten, die „Sons of Anarchy“-Shirts tragen. Was wollen die damit erreichen? Wo wollen sie hin? Was glauben sie, dass sie da tun?

Ich mag das Geräusch von versiegelten Pringlesdosen, wenn sie zum ersten Mal geöffnet werden und so wunderschön sanft ploppen (buchhhhhh). Und ich mag es, sie direkt nach einem Lauf zu essen. Und zwar alle. Weil das dann so angenehm legal ist. Kalorien verballert, Kalorien gefressen. Ich darf. (… so bleiben wie ich bin …)

Sonst Buckelpisten. Waldwege. Hecken. Sträucher. Ziegen. Schafe. Nebelbänke auf morgendlichen Wiesen. Gewässer. Dort Badestellen. Mit dicken klobigen Sitzbänken. Weiter nur Wald. Die Laufrunde umfasst lockere 13 Kilometer bergauf und bergab um einen der zahllosen Seen, während dessen Umrundung ich gleich mehrere enorme Runners Highs produziere. Dopamin. Unendlich Luft. Unendliche Energie. Gänsehaut bis zwischen die Läuferzehen. Im Ohr Cavalera Conspiracy, die mich vehement nach vorne treiben. Max, der alte Max Cavalera, der mir immer noch Geschwindigkeit bringt. Zusammen werden wir …

(inflikted, show no mercy, muthafuckin‘ wicked …)

… gar nichts. Gar nichts werden wir machen. Warum auch. Gefeiert sei der Krankenstand. Die Auszeit. Nach Jahren endlich wieder. Der große Gelbe. Far out. Fuck out. Es gibt mich nicht. Bin so raus, mehr raus kann man nicht mehr sein.

Flashback. Vor vier Wochen. Mein aktueller Partner im Borgwürfel reißt in einem Routinemeeting mit der externen Controllerin, die den Geldgebern meines Projekts zum Jahresende ihren Bericht über uns vorstellen wird, die Arbeit von Jahren ein, indem er sie wegen eines Fehlers, den er gemacht hat, lange Minuten durchbeleidigt. Ein trauriger Auftritt. Erbärmlich. Er verlor unter Druck die Nerven. Überbelastung. Prüfungssituation. Offenkundige Fehlleistung. Gezielte Provo drauf. Dann die aus den Gattern der verlorenen Contenance ausbrechende Aggression.

(Stümper)

Das Gespräch geriet vor den Augen aller anderen Teilnehmer aus dem Ruder, wurde abgebrochen, zurückbleibend ein Scherbenberg, doch es war mir seltsam egal. Ich griff nicht mal ein. Ließ durchrauschen. Ließ ihn alles abfackeln. Und auf die Asche draufpissen. Sah teilnahmslos zu, wie es den Wagen meines derzeitigen beruflichen Fundaments in Zeitlupe aus der Kurve trug. Es ist mein Hauptprojekt, an dem ich seit Jahren verantwortlich arbeite. Das ich, der Verkäufer, gut verkauft habe und immer ständig neu verkaufen muss, um von mittelstreichenden bornierten Budgetfürsten die Folgefinanzierung für die nächste Projektphase zu aquirieren. Überstunden. Wochenenden. Kreativkraft. Hohe Motivation. Boni. Prämien. Lobgesangmails. Gepushte Reputation. Alles egal. Wie als beträfe mich das nicht. Ich versuchte nicht einmal, das Ding im Nachgang noch zu retten, sondern nahm emotionslos zur Kenntnis, dass der nervenwunde Ausflipper soeben mein Projekt versenkt hat.

Blubb.

Der Sonntag vor dem Breakdown auf dem Weg zum Sport kam als körperlicher Warnschuss daher. Atemnot. Hals zugeschnürt. Das Gefühl zu platzen (remember, die Zelle fährt). Das alles nicht mehr zusammenhalten zu können. Musterklarer Kontrollverlust. Kriege nicht mal mehr die eigene Mimik in den Griff. Jeder Reiz wie Schmerz. Körperlich fassbares Wissen, jetzt doch Hilfe zu brauchen. Dringend Hilfe zu brauchen. Überlegung, die Begleiterin meines kranken Seelenkreuzwegs anzurufen, die mich so gut kennt, die gleichartige Geister plagen, doch die Idee des Anrufs verworfen, weil ich sie nicht runterziehen will, weil sie auch ohne meinen Schlamm genug Ballast zu tragen hat. Wieder alleine durch die Schwärze pflügen. Notizen machen. Das hier schreiben (Oberbaumcity, Parkbank). Tief atmen. Training durchziehen. Falsch lachen. Aufgesetzt scherzen. Auspowern. Aufstehen. Weitermachen. Den Selbstwert wie Legosteine wieder zusammensetzen. Mühsam immer. Klack. Klack. Klack! Dann funktioniere ich so lange weiter, bis wieder Legosteine rausbrechen, die jedes Mal mehr werden.

Ich

Falle

Auseinan

Der

.

Es ist ein hartes Jahr auf einem harten Arbeitsplatz in diesem wunden Land, das mit vollem Vorsatz in eine tiefe, schmerzende und folgenreiche Rezession geht, um dem Hegemon ein guter Vasall zu bleiben – und doch ist erst September. Mein Leben geht in die zweite Halbzeit. Müde. Verrauscht. Vergangen. Verschwendet. Kaputtgespielt. Ausgebrannt. Leergerockt. Die Notwendigkeit des Zwangs, immer mehr bringen müssen, weil immer weniger Leute da sind, die außer Selbstdarstellung überhaupt noch was machen. Schmelzende Mittel. Zusammengestrichene Budgets. Dauernde Rotation ohne Rekonvaleszenz. Energielevel gen Null. Kraft verflogen. Esprit aufgelöst. Selbst sowas wie ruhiges, tiefes Atmen kostet Konzentration. Wenig tragfähig als Konzept. Geht so nicht. Weiß jeder. Ich jetzt auch.

Zur Behandlung steht schließlich Tinte auf Papier diagnostiziert eine schwere depressive Phase mit unverhältnismäßig überzogen ungesund manischen Episoden und eigengefährdend erhöhtem Risikoverhalten. Als Auslöser hervorgerufen durch zu viele Tode im engen Umfeld gepaart mit den üblichen Querschlägern und Beinknüppeln, so dass mir zusehends der Auftritt entglitt. Die Schwärze das Feld gewann. Der Fatalismus unbeherrschbar. Nachts um zwei in Friedrichshain breit wie Bolle die selten so schmerzhaft greifbaren Gedanken daran, wie es wäre, wie der Freund von den Dächern fliegen zu können. So reizvoll wie nie. So manifest wie selten. Frühst darauf der Araber am S-Bahnhof Greifswalder, der schrie, in Rage, den abgebrochenen Flaschenhals in der Hand fuchtelnd, vor dem ich stehenblieb und ihn anschaute (stech mich ab, los, stech schon), klick, klack, lange Sekunden, bevor ihn die Bullen abgeführt haben.

Sie müssen hart kämpfen, um wegen sowas akutbehandelt zu werden. Das ist die berühmte Empathielücke für die Männer. Jeder denkt, dass Sie faken. Oder übertreiben. Sich wichtig oder es sich leicht machen wollen statt wie ein (hohoho) echter Mann gegen alle Widerstände, Herausforderungen und die nie endenden Zumutungen zu kämpfen. Selbst wenn Sie sichtbar für alle am Boden liegen, bluten und Ihre Gedärme auf dem Asphalt verteilt im Grind liegen, erwartet man, dass Sie weiterackern statt aufzustecken. Smile, baby. And man up.

Sie müssen Hürden überwinden, die überweisende Hausärztin, danach die Krankenkasse und dann finden Sie in der Stadt der einjährigen Warteschlangen ewiger Terminsuchen mal einen Therapeuten, der Sie als Fall so interessant findet, dass er sich herablässt, Sie dennoch zu behandeln. Eine Odysee des Stumpfsinns in einem Metier des Mangels. Kann ich bitte das Friedrichshainer Dach nochmal sehen?

Das alles gehört bearbeitet. Muss mich aufschneiden, den Krebs rausschälen, sezieren, analysieren, drauf rumkauen, verdauen und ausscheißen, um mich danach wieder zusammennähen zu lassen. Und es muss genau jetzt sein. Kann die Angelegenheit nicht mehr schieben. Keine Woche mehr schieben. Nicht mal mehr Tage. Weglächeln. Überspielen. Game over. Die Grotte sitzt zu tief. Für die schöne glatte Fassade der Existenz, die ich spiele, habe ich keine Reserven mehr übrig. In mir ist Dezember. Es ist keine Übung. Ich kann wirklich nicht mehr.

Der Sitzungen bisher fünf. Und schon kommen wir zum Kern der Kerne. Der schnell klar wird. Brach liegt. Da liegt. Stift auf Block. Kritzel kritzel. Kurze Fragen. Lange Antworten. Erkenntnisgewinn. Warum ist der Typ so? Wie wurde der so? Weil sie ihn so gemacht hat, jene, die mich aus ihrer Ritze gedrückt hat, sabotiert, blockiert, verhindert hat, dass ich gesunde, heile, verhindert hat, dass ich zur Ruhe komme, dass ich Frieden finde, und dieses verfaulte schimmlige Tau zu der alten Schabracke muss ich durchbeißen und wenn es Monate kostet oder Jahre oder Äonen und danach in diesem idiotischen Honkenblog hier endlich keine Psychoausfälle und Drogenunfälle und Ausraster und Hirnnudeln mehr stehen, sondern bräsige Landschaftsbeschreibungen, oh kuck mal ein Baum, ein Windrad, Reh, Hirsch, Meerschweinchen. Och wie süß. Lass mal Ahornblätter sammeln. Eicheln. Spitzwegerich. Oder ein Hundebild machen. Golden Retriever. Natürlich. Was denn sonst.

Dabei habe ich schon wieder Glück. Die Therapeutin, vor der ich zwei Mal wöchentlich im alten DDR-Style-Sessel sitze wie als kleiner Tagger damals in der Sekundarstufe auf den harten Stühlen vorm Rektorenzimmer, ist gut. Jung. Jünger als ich. Klug. Empathisch. Und sehr gut. Erfasst das beschädigte Stück Mannware samt dessen Ursache sofort. Für mich neu. Das Ernstnehmen. Dass jemand nicht gelangweilt / irritiert / versteckt angewidert ist, sondern durchblickt. Helfen will. Sich Gedanken macht. Endlich mal nicht urteilt. Womit ich wohl jetzt keine Spiele mehr spielen kann. Keine meiner Finten. Aufführungen. Spiegelfechtereien. Einmal nicht einer zu sein, der ich nicht bin. Nun an der Reihe, mich ehrlich zu machen. Aufmachen. Vertrauen. Kontrolle abgeben. Nicht mehr manipulieren. Nicht mehr steuern. No more Mauern. Unterhose runter, du Wahnsinniger, stell dich seelennackt hin und lass dich begutachten. Auseinandernehmen. Sezieren. Analysieren.

Und vielleicht.

Reparieren.

Exit. Light.