Juni in der Stadt

Mein Treppenhaus. Das Parterre stinkt nach Bahnhof. Touristen pissen jetzt wieder an mein Haus und ich bin immer noch machtlos.

Die Luft riecht nach vom frischen Regen aufgewirbelten Straßenstaub. Es sind angenehme 20 Grad. Bei den Säufern vom Späti herrscht großer Bahnhof, weil die Säufer vom Nachbarspäti heute bei uns auf Staatsbesuch sind. Aus einem Brüllwürfel blökt Vamos a la playa. Die Dose DrPepper Cream Soda kostet jetzt drei Euro. Der Spätimann klagt den Mond an, dass er mir kein Toastbrot verkaufen darf und macht die Grünen dafür verantwortlich. Die wollen die Spätis kaputtmachen. Die Grünen. Deswegen die ganzen Regeln. Die machen sowieso alles kaputt.

Wenn warm, dann Zeltstadt. Die Favelas aus Zelten und Matratzen und Wolldecken unter dem Viadukt der Schönhauser Allee wachsen wieder. Hinten Richtung Volkspark haben wir jetzt auch Zombiewalk. Crackheads. Fentanylfressen. Ketaminkrüppel. Ostbahnhof. Elsenbrücke. Spreeufer. Zelte. Matratzen. Plastiktüten. Klamotten. Campingkocher. Keine Romantik im Outdoor. Berlin ist übervoll. Und die Gestrandeten immer auf der Suche.

Marienburger Straße. Im Edeka der Auftritt von einem mit freiem Oberkörper, der schreit und mit Salat wirft. Kopfsalat. Mit Wurzelballen. Bio. Die Regaleinräumer mit Routine. Sie tragen ihn raus.

Ein Rentner davor trägt heute nur seine zwei Plastiktüten Pfand durch den Kiez. Leuchtet in einen Mülleimer. Fasst dann rein. Fischt was raus. Wochenendarbeit ohne Zuschläge.

Vor Bistro Melis (den beste Döner) stehen zwei Bullenwannen. Sie zerren einen Typen raus. Der blökt. Faucht. Schlägt um sich. Sie brauchen drei der viel zu jungen, dürren Bullen, um den Einen in die Wanne für die ED-Behandlung zu packen. Der Melismann sagt mir, dass der Typ seinen Döner nicht zahlen wollte und deshalb den Weg der Gewalt ging.

(wolltede die Döner nüsch zahln’n, habüsch Bulln’n gerufn’n. Wassollisch machn’n?)

Mehr braucht es momentan nicht. Der Döner teuer. Die Münzen wenig. Der Hunger groß. Die Lunte kurz. Der Juni in Aggro City. Die Stadt so wund im Frühsommer.

Eine picklige Blonde mit buntem, spitz geformtem Plastik über ihren Fingernägeln bestellt einen dieser neuen veganen Dürüm, deren Fleischimitatschnitze nach abgeraspelter und dann gepresster Hornhaut schmecken. Nicht dass ich meine Hornhaut je abgeraspelt, gepresst und dann probiert hätte, um das vergleichen zu können, aber es klingt halt gut.

Die picklige Blonde samt ihrem Plastik wird zu wenig geliebt und hat sich als Folge dessen verhärmt, sowas sehe ich sofort. Zu solariumbraun, zu gepierct, zu hart, zu bissig, zu abweisend. Eine Kodderschnauze, zu der man auf Abstand bleibt. Menschen wie sie verursachen Schmerz, um den eigenen unkurierbaren Schmerz abzubauen. Und weil sie Schmerz verursacht, kriegt sie Schmerz zurück. Wonach sie dann wieder … Teufelskreis. Ich gehe.

Dönerfett in der M10 stinkt der Typ neben mir so sehr nach frischer Pisse, dass ich ihm Melis‘ Stinkedreieck in seinen Schoß kotzen will. Geh‘ doch bitte duschen, Bro, möchte ich sagen und sage es doch nicht.

Der BVG-Fahrer der heute wieder mitmenschlich sehr widerlichen M10 übt sich in der üblichen BVG-Charmeoffensive, nur weil sich an einer Türe eine Menschentraube bildet: „EEEEEEEEEEEEHH! ET JIBT NOCH ANNERE TÜRN’N UN’N NICH‘ NUAH DIE EEEEENE!!! NEEEEHMOMAAA DIE ANNEEEREEEE TÜÜÜÜRE MANN MANN MANN!!!“

(elf eins)

Eine schlecht tätowierte Eule in meiner M10 hat exakt die gleichen bunten Plastikschaufeln über den Zehennägeln ihrer billigen Sandalen, die die solariumblonde Eule mit den Pickeln von Bistro Melis an den Fingern hatte. Heute ist Plastikschaufelparade. Supersonderangebot. Pornokrallen. Tigerlillies. Warum die das machen kann ich nicht sagen.

Ein Werbewichser, der Slipper ohne Socken mit einem übergriffig weit aufgeknöpftem Hemd trägt, diktiert über sein Telefon einen Brief an jemand Untergebenen: „ÄTTITUDE! DA MUSS MEHR ÄTTITUDE REIN! JA! ÄTTITUDE! WARTE, ICH DIKTIER‘ DIR DAS!“

Und diktiert das.

Der Pissestinker steigt aus. Zurück bleibt ein Hauch von vergammeltem Speck. Räucherflavour. Ich möchte dem Werbewichser sein Telefon samt Ättitude in den Hals rammen und tue es doch nicht.

Verpeilerparade. Frankfurter Tor steigt ein schiefer Mensch ohne Zähne ein. Und ohne Schuhe. Ein Stück Penis lugt aus einem Riss der bisher dreckigsten Hose des heutigen öffentlichen Nahverkehrs. Ich gebe ihm eine Münze. Tun Sie mir den Gefallen und stecken den Penis wieder rein, möchte ich sagen und sage es nicht.

Es sind einfach zu viele.

Ich denke an das letzte Gespräch mit einem Freund. Den seine Freundin in einer Art rosa wattiertem Knast wie ein eierabgebundenes Maskottchen hält. Er muss um Erlaubnis bitten, wenn er sich mit mir treffen will und das macht mich fertig. Er ist eine traurige Gestalt wie viele Männer ab 40 traurige, würdelose Gestalten werden, und ich treffe mich mit ihm nur noch, weil es ihn schon immer gibt und man Leute nicht aufgibt, nur weil sie sich in einen Kerker begeben haben und dort in Bodenhaltung gedemütigt werden.

Meine letzte Beziehung mit einem menstruierenden Menschen, die man jetzt so nennen soll, ist lange her und war ein Kampf um Freiheit bereits ab Monat Eins. Geschrei. Geschimpfe. Schweigen. Bocken. Manipulieren. Das Anfeuern der Freundinnen aus dem Off. Der Typ wär‘ mir zu frei. Der macht ja was er will. Also meiner dürfte das nicht. Meiner nicht. Wieso lässt du zu, dass der das macht? Weggehen. Wegfahren. Rausgehen. Atmen. Luft kriegen. Warum macht der das. Warum darf der das. Reichst du ihm nicht?

Sie haben am Ende als letztes Aufgebot Freunde vorgeschickt. Um in dieser bleigewordenen, längst gestorbenen Beziehung zu vermitteln wie die Vereinten Nationen in einem Bürgerkrieg.

Ich habe sie rausgeschmissen. Weil der Zustand ein schlimmer war. Weil sie nicht aufhörte damit. Weil ich ganz sicher nicht um Erlaubnis frage für die Dinge, die ich mache. Weil ich nicht bin wie sie alle jetzt in diesem Pantoffelalter geworden sind. Und weil ich am Ende weder Entertainer, Finanzier, Launenprellbock noch stumpfer Eiweißlieferant für gelangweilte Mitteschnepfen mit botoxgepitchtem Ego und hochgeschnürtem Dekolleté mehr sein mag.

Ankunft. Warschauer. Am Ziel. Der neue vegane Rewe. Das alte Oktagon. Der uralte Suicide Club. Der dumme Fotoautomat, in dem dumme Leute dumme Vierer-Papierfotos machen, die sie hinter ihre Flurspiegel pinnen und dann vergessen. Jemand rappt übel zu schlechten Beats. Haschiisch? Haschiisch? Fragt einer und noch einer. Eine hüpfende und winkende Greenpeacefrau (Halloooo-hoo duuuu-huuu!) spricht mich an und ich lasse sie stehen. Ich mag Greenpeace nicht.

Auf der Warschauer Brücke kabbeln sich zwei Verticker. Einer hat seine Currywurst auf den Boden gestellt, um sich besser kabbeln zu können, Gefieder Gefieder, Männeraufgeblase, Brust raus, Schultern breit, doch hilft es nichts, denn er bekommt eine volle Breitseite. Bam Bam. Zwei Dinger. Höhe Wangenknochen, dann Fresse, liegt er da und der Andere geht stiften, wohl ahnend, dass die nächste Bullenwanne nicht lange bis her brauchen dürfte.

Alle schauen wieder nur. Ich frage den nun Liegenden, ob er alright ist. Are you alright? Yeah. I’m alright. Sagt er. Minimal aus dem Maul blutend nimmt er seine Currywurst und isst weiter. Schleicht sich zum U-Bahnhof, vor dem ich wieder einen rappen höre. Die Beats schlecht. Das ist ein Zeichen dieser Zeit. Die Beats sind immer schlecht.

Mich glotzen die dummen Menschen jetzt an, als wäre ich es gewesen, der dem Currywurstmann gerade die Schellen gegeben hat, dabei war ich das nicht. Hier passiert nichts mehr, hören Sie auf zu glotzen und gehen Sie weiter, will ich sagen und sage es doch nicht.

Mein Arnswalder Platz. Später. Trübe. Vorfreude. Leichte Aufregung. Ich habe die Psilos vom palästinensischen Checker in der Tasche und freu‘ mich schon. Dass labile Doppelleben wie meines irgendwann auffliegen müssen und zwangsläufig zum Absturz führen, weiß ich, nehme das aber in Kauf und warte auf den Moment, an dem mein Bluff platzt und ich endlich ausgeschissen werde.

Drüben bei Melis voll dort, wie immer nachts. Melis macht den Besten (beste Döner) für die Straffen und die Strunzen. Der Barber Shop daneben, vor dem tagsüber bärtige Dschihadgesichter abhängen und aufgeregt die Weltlage bewerten, hat längst zu.

Vor dem Späti herrscht reinste Empörung und ich nehme den Fall auf. Jemand hat die Spendenbüchse fürs Kinderhospiz geklaut, die immer auf der Theke steht. Rein. Büchse unter den Arm damit und raus. Paar Cent für ein bisschen Crystal. Ostberlin Ketamin. Drecks Crackheads. Weniger Support für die todgeweihten Blutkrebskinder, mehr für die chemiezerfressene Lunge des Verlorenen mit der Büchse unterm Arm. Es gibt Bilder. Von dem Typen. Auf Kamera. Aber die will niemand sehen. Die Bullen kommen nicht mehr her für sowas. Einer versucht es nochmal und landet in der Warteschleife der Notrufzentrale. Palaver Palaver. Der Bieradel will Blutrache. Ob die Bullen heute noch eine Schriftlage schaffen werden, bekomme ich schon nicht mehr mit.

Das ist Berlin, take it or leave it, möchte ich sagen und sage es doch nicht, kaufe mir meinen zuckerfreien Energydrink, gehe nach oben und schließe die Türe hinter mir. Die Wohnung belasse ich dunkel beim orangen Licht der indirekten Laternen, das ich so mag. Unten auf der Kreuzung knutscht ein junges Pärchen. Jemand gegenüber spielt Schlagzeug. Der Kühlschrank brummt. Ich spiele keine Musik. Es wird der erste Trip dieser Art.