Glauchau / 2023

The night belongs to the poets … and the mad men.

Javier Delgado


Bei meiner Anreise von Berlin nach Glauchau zeigt die Deutsche Bahn, wie sehr Bahnfahren für Abwechslung und extra Tagesfreizeit sorgen kann. In einem Nest namens Jüterbog tauscht der schiefliegende Privatstaatsmoloch den Zug aus. Leute raus. Alter Zug weg. Neuer Zug her. Leute rein. Deswegen ist mein Anschluss in Wittenberg weg.

Später in Burgkemnitz steigt eine Rotte rotgekleideter Fußballfans ein. Sie stinken nach Pils, drei acht Tage nicht unter den Achseln gewaschen und altem Penis. Sie lallen. Sie brüllen. Rufen komische Schlachtrufe. Hüpfen. Lassen Bier durch den Wagen zischen. Fußballfans sind neben einer Horde Gibbons, den Sprittis vom Arnswalder Platz und Politikern aus Berlin-Mitte eine der Gruppierungen, deren direkte Nähe ich aus Gründen der Selbstachtung nicht suche.

Diese Menschen hier in meinem Zugteil verehren einen Club namens RB Leipzig, der von einer Getränkedosenfirma unterhalten wird. Ich verstehe von Fußball und der Heiligenverehrung irgendwelcher reichen Dummköpfe mit Ball auf einem Rasen nichts, aber was jemanden dazu bringt, Geld zu bezahlen, um einem seelenlos zusammengekauften Retortenclub beim Sowiesonichtmeisterwerdenweildasbayernwird zuzuschauen, verstehe ich am allerwenigsten. Projektion vermutlich. Einmal alle paar Monate bei einem Sieg gegen Blunzenclubs wie Hertha BSC als Putzerfisch eines Konzerns mit auf der Gewinnerseite sein, wenn sonst nichts geht, und wenn es nur als devotionalienkaufender dosenschlunztrinkender Schlachtrufbrüller in der Fankurve ist, dem sie die Reststütze aus der Tasche ziehen, die bis dahin noch nicht versoffen wurde.

Einer der Fans ist jetzt schon vor dem Spiel sehr hacke, ist kaum zu verstehen, hat sich aber mich als Gesprächspartner in diesem muffigen, nach Bier, Schweiß und – nochmal – Penis mockernden Raum ausgesucht. Er stinkt bestialisch aus dem Hals nach wochenlang abgestandenem Bier und ich kann nicht weg, weil der Wagen so voll ist wie die Berliner Ringbahn morgens zur Stoßzeit, also höre ich mir seine Stellungnahmen an. Scheiß Bayern. Die scheiß Bayern. Und die scheiß Bayern. Und irgendwas mit scheiß Dortmund. Scheiß Union. Scheiß Freiburg. Scheiß Hertha, klar. Du bisso Balina – bissudobalinaa! Schaaaaiß Hääääärtha. Ein unangenehmer Mensch.

Beim Umsteigen am Bahnhof vom Leipzig, an dem ich natürlich den Anschluss nach Chemnitz verpasse, wo ich den Anschluss nach Glauchau verpassen werde und der darauf folgende Zug einfach wegen Personalmangels gestrichen wird, entdeckt mich ein weiterer Stinker, der allerdings kein Fußballfan ist, aber trotzdem brüllt. Mich an. Und noch erbärmlicher stinkt als die Energygetränkefans von eben. Urin. Kot. Maulgünther. Tausend Jahre Kotze und Dünnes. Als ich auf eine andere Sitzbank wechsele, um ihn abzuschütteln, kommt er mir hinterher, weil er mich mag. Ruft Dinge. Wedelt seinen Gestank mit einem löchrigen Schirm zu mir, Gestank von der Sorte, den Sie für Wochen nicht mehr aus der Nase kriegen. Wie Leiche. Wie der alte fette Säufer, der in Neukölln damals eins über uns gestorben ist und über viele Sommertage lang eine verwesende Legierung mit seinem Sofa eingegangen ist, das die Feuerwehr mitsamt seinen Resten das Treppenhaus runtergetragen hat. Leichengleiche Stinker. Das ist immer so. Solche Leute mögen mich. Ich bin ein Stinkermagnet auf zwei Beinen. Keiner zieht so viele gestrandete Menschen mit Hygieneproblem auf der Suche nach menschlicher Nähe an wie ich.

Nach knapp acht Stunden Regionalzugerlebniswelt voller inadäquater Menschen erreiche ich Glauchau. Hier war ich noch nie, aber hier spielen zwei Bands, die ich gerne spielen sehe, an einem Abend. Sie schaffen es nicht gemeinsam nach Berlin, also fahre ich für sie nach Glauchau, in dieses tiefblaue Land. Nach Sachsen.

Dort unten befindet sich der vom restlichen Land ausgeblendete Redneckbelt, dieses alte dicke laute saufende Deutschland, das in den Medien nur als abschreckendes Beispiel stattfindet, das zunehmend weniger abschreckt. Straßen. Bahnhöfe. Vorplätze. Wampen. Feuerrote Gesichter. Schmerzensmänner mit Hund und ohne. Schon mittags an der Bierpulle hängend. Gesichter verkniffen. Sichtbar übelnehmend. Schnell präventiv laut werdend. Von jedem das Allerschlimmste erwartend. Auf Abwehr gegen wirklich alles. Ronnyland. Ein Tim Kellner-Talkalike-Contest. Und wenn Sie Antennen für sowas haben, spüren Sie eine gerade noch knapp unterschwellige Aggression in der Luft, eine Spannung, Dauerspannung, die jederzeit eitrig aufplatzen kann.

Ich weiß nicht, wie die Haltungsprediger meiner von allen Realitäten abgekoppelten Hauptstadt auf den Gedanken kommen, diesen Landstrich hier zähmen zu können, denn es wird nicht klappen. Gäbe es die von Westdeutschen totinvestierten und ödsanierten Großstädte dieser in Zeitlupe kippenden ostdeutschen Bundesländer nicht, würde Blau hier die absolute Mehrheit einfahren. Der Backlash, den ich angesichts der mit Penetranz und Ignoranz durchregierenden Brechstangenmodellierer seit Jahren eher bauchgefühlig denn fundiert prophezeie, wird hier fast physisch greifbar. Setzen Sie sich doch mal auf einen dieser Bahnhofsvorplätze, wenn Sie wie ich bei jedem Umsteigen den Anschluss verpassen und stundenlang Zeit haben. Wittenberg. Chemnitz. Zwickau. Altenburg. Die nächsten Jahre werden mindestens interessant werden. Hören Sie mal die Gespräche im Zugabteil vor Leipzig mit. Auf einer Bank im Chemnitzer Bahnhof. Im Glauchauer Aldi vor den Fenchelkisten. Nachts in einer ordinären Cocktailbar bei einem schlecht gemixten Mai Thai. Im Frühstücksraum von welchem Hotel auch immer. Ich kann das wie folgt zusammenfassen: Die hassen euch alle. Ehrlich. Tun die. Und es ist ihnen scheißegal, was ihr davon haltet. Und wie ihr sie nennt.

Ich bin tatsächlich wieder alleine unterwegs, weil niemand meiner Leute nach Sachsen will. Erwähne ich dieses S-Wort im Zusammenhang mit einem Konzert, denken alle an Musik von welchen, die über den Opa singen. Dachboden. Runen. Heidentum. Fackeln und Mistgabeln. Nich‘ lang schnacken, Stiernacken. Schalala. Und rülps.

Ich isoliere mich insofern zunehmend mit meinem Vorhaben, wieder mehr zu kleinen Gigs in kleine Punkschuppen der ostdeutschen Provinz zu fahren, anstatt lustlosen Millionären in den großen Blitzeblankhallen der Hauptstadt 50, 60, 70, 80, 90 Euro für ein halbherziges Massenkonzert hinterher zu werfen, für die ich in Flecken wie Glauchau locker zwei Mal übernachten kann.

Sachsen ist krass und ich kann Sachsen immer weniger einordnen. Empfinde die Klischees gar nicht als Klischees, sondern als wirklich da. Camouflagehose. Camouflagerucksack. Gesichtstätowierte. Nationalgardeshirts. Die billig blondierten, immer zu dünnen Frauen mit diesen schlecht angeklebten türkisenen Fingernägeln, die ich seit zehn Jahren so nirgendwo mehr, nicht mal in Brandenburg, gesehen habe. Gerne rosa gesträhnt. Entzündete Backen-, Lippen-, Augenbrauenpiercings. Und eigentlich wird immer gesoffen. Einer brüllt hacke eine Verkäuferin des Chemnitzer Bahnhofs in Grund und Boden und in einer Sprache, die ich nicht verstehe, weil sie zu viele Umlaute hat. Ö. Ü. Ä. Fünf Ä. Und Ü. ÄÄÄÄÄ. ÜÜÜÜÜ. Dann schlägt er gegen die Trennwand, tritt gegen einen Aufsteller und zieht seinen Staffordshire hinter sich her, der gegen denjenigen, der ihn zieht, geradezu friedlich aussieht. Aggropolka im schienengebundenen Nahverkehr. Hier platzt sie auf, eine der vielen eitrigen Blasen, die die mutwilligen Transformatoren nach jedem ihrer gesellschaftlichen Eingriffe hinterlassen.

Glauchau. Internet. Keins. Kaum welches. Die letzten Meter an mein Ziel habe ich in einem rostigen museumsreifen Zug der Mitteldeutschen Regiobahn verbracht, den ich in so einem räudigen Zustand zuletzt vor zehn Jahren in Polen gesehen habe. Ich habe netzmäßig schon lange nicht mehr solch ein Tal der Ahnungslosigkeit erlebt. Die Verbindung zu allem reißt ständig ab. Stream. Audionachricht. Selbst ein in den Messenger geschüttetes Meme lädt nur in Schneckengeschwindigkeit. Byte für Byte … für … By … te. Wenn Sie hier 4G oder 4G+ in der Benachrichtigungsleiste stehen haben, heißt das gar nichts. Es ist effektiv Edge. Oder oft gar nichts. Keine mobilen Daten. Nix. Schwarz. Licht aus. Für einen Neun-Minuten-Clip habe ich knapp 40 Minuten gebraucht. Meine Reise in den rechten unteren Winkel der Landkarte ist somit eine Reise zurück nach 2012. In eine gleich mehrfach vernachlässigte Gegend des Landes. Welliges, löchriges Kopfsteinpflaster wie sonst nur noch in Ostberlin. Die uralten, stinkenden Züge, die einfach weiter fahren, bis sie auseinanderfallen. Und der hier verbaute Mobilfunkantennenschrott aus den 90ern, den sie im Rest der Republik wegen Überalterung längst abgebaut haben.

Die Wände und Laternen der Stadt gehören trotz der klaren Politlage der Antifa. Die hier anders als in Berlin aus einer Position der absoluten Minderheit agiert. Antifa ist hier noch Handarbeit. Während die Antifa der Hauptstadt als satter Mehrheitskonsens mit dem wohlstandsbauchigen Identitätskram eitel an sich selber rumspielt und damit im Ergebnis nur Karrieren und Konzerne bedient, ist hier noch Front. In diesem Landstrich, in dem Blau Landkreis für Landkreis einnimmt. Ein komplett verlorener Posten. Rückzug. Nische. Laternenpfahl. Nach zwei Tagen abgepiddelt. Oder überklebt. Du Opfer.

Sachsen. Ein ganzes Bundesland, schief gewuchert seiner mehrfach geknickten Identität. Bleibt dabei. Ich kriege Sachsen nicht mehr eingeordnet.

Glauchau. Spielothek. Dönerhaus Wuslat. Sportlerheim Eichamt. Messer, Pfeifen, Sachsenlotto. Männerhandtasche XXL mit 12 Bierspezialitäten. Modehaus Gärtner bedankt sich für die Treue. Die Flaniermeile heißt Gewerbegasse und ist an diesem Samstag ausgestorben. Viel Leerstand. Der stationäre Einzelhandel auch hier am Ende aller Optionen. Hähnchenbein. Sommerrolle. Ochsenbacken. Ein Podologe heißt Heilmann. Das Schönste finde ich die zahlreichen an das bröckelnde Mauerwerk gesprayten Penisse. Hier betreibt jemand eine Passion.

Mittwochs ist Schiffchentag beim Dönermann. Schuh Clauß macht Räumungsverkauf. Beim Grillhaus der Krustenbraten für Vierfünfzig. Da kann man nicht meckern, sagt einer.

Das Urbanität vorschützende free Wifi auf dem Marktplatz von Glauchau funktioniert natürlich nicht. Aber sie haben tatsächlich noch Kaugummiautomaten hier. Die funktionieren.

Glauchau. Die Schnitzeloase. Sternburgtrinkende Jugendliche vor dem Netto. Tatsächlich immer mit Kampfhund. Aufheulende Motoren. Alpha Industries. Auf Jacken. Hoodies. Roter Klinker an zahngelber Fassade. Hüpfburgen kommen in Ihre Stadt. Ein verloren aussehender arabischer Junge sitzt in einem Haltestellenhäuschen, das vor einem riesigen Kreuz einer sehr hässlichen, natürlich evangelischen Neubaukirche steht. Federn Schmidt. Seit 1926. Die Bierhähne. Urkomisch-musikalische Männerwirtschaft. Sonntag in der Sachsenlandhalle.

Dann dieser Wohnungsleerstand. Leere Butzen. Werbeplakate. Werbend um Mieter. Nochmal: Werbend. Um Mieter. Angepreise der Vorteile. Individuelle Grundrisse. Kostenlose Hotline. Vor einer blauen Mülltonne, aus der eine Krähe ein Stück Pappe zieht, auf einem größtmöglichen Plakat die Botschaft: Willkommen daheim. Irgendwo bellt ein Hund. Einer lässt von seinem Audi die Reifen (soooooolche Schlappen!) quietschen. Der nächste Bus kommt in zwei Stunden. Friedhöfe geschlossen. Holzverschläge an Altbautüren. Oder gleich ganz zugemauerte Zugänge. Diese Stille tagsüber, wenn Sie die Gegend der Trinker um den Bahnhof verlassen. Keine Seele. Unterwegs.

Würden Sie Sushi in Glauchau essen? Ich irgendwie nicht.

Mir ist ein ganz alter Freund aus jungen Punktagen, einer der coolsten Säcke von allen damals, ins Völkische abgedriftet. Gibt jetzt irgendwo hier in der Gegend Heimatforscherseminare. Inmitten alter Ritterkreuzschmissfressen hinter ihren Frühschoppen in ulkigen Trachtenjacken. Ich habe den alten Freund gegoogelt und ihn als anderen Menschen gefunden, der sein neues Leben auf seiner Heimatseite ausbreitet. Ich hätte es lassen sollen.

Glauchau. Gaststätte Försters mit der Paulanerwerbung über der Speisekarte weiß sicherlich nicht, was ein Paulanergarten ist. Regionalverkehr Westsachsen. Wir stellen ein. Stadtwerke Glauchau. Unsere Energie bewegt. Batida de Coco steht staubig in den Kneipenregalen der Stadt. Metaxa. Averna. Captain Morgan. Whisky war in diesem Landstrich an einem Samstag nicht zu bekommen.

Glauchau. Des Frühs. Pulverrührei. Dosenobstsalat. Backsteinbrötchen. Dünnster Kaffee. Eine traurige matschige Birne. Kaum greifbar winzige Tassen. Die Wände so dünn, dass sie die Schnarcher der Nebenzimmer in mein Bett lässt. Die Kirche hinten beim Marktplatz bimmelt. Wieder bellt ein Hund.

Sollten Ihnen in Glauchau in einem seltenen Moment lebendige Menschen und eben keine auf Plakaten begegnen, haben sie immer jeder eine Bierflasche in der Hand. Als wäre sie dort angewachsen und jeder Glauchauer käme mit so einer auf die Welt.

Mit Sicherheit gibt es Glauchauer, die was anderes trinken als Bier. Milch. Kakao. Fritzkola glaube ich eher nicht.

Die testosterongebolzte Jugend, die in herausfordernden Kleingruppen mit breit gespreizten Armen provozierend durch die Nacht streift, ist deutsch. Es ist so, dass ich mir Menschengruppen gerne von weitem ansehe und ihre Wirkungskreise meide. Weil sie immer gleich funktionieren, egal unter welchem Banner. Ihre Dynamik ist wie eine Choreo. Aufschaukeln, Wortführen, Ziel identifizieren, Losziehen. Ich weiß um die Dinge, die aus Gruppen heraus geschehen können. Das geht mir zwar auch in Berlin so, aber hier kenne ich die Gegend nicht. Die Fluchtwege. Was hier geht und was nicht. Dort um halb zwei an der Schlachthofstraße. Park. Gruppen. Übermut. Bier. Die anfeuernden Mädchen. Die lauten Jungs. Das Aufplustern, das Gebrülle in die chronische Stille. Ich bin mir plötzlich gar nicht mehr sicher, ob ich wirklich von Berlin weg will. Die Glauchauer Nacht ist mir fremd wie alles hier.

Die nach Sachsen eingeschmuggelten Betäubungsmittel waren das letzte Ediblegummi aus Christiania und gutes Brandenburger Gras von Biobauern. Mein Rausch heuer gediegen. Fast sanft. Potsdam steckt mir noch in den Knochen. Ich mag nicht nochmal sowas haben.

Auch sind mehr als zwei Zugaben der Band heute nicht drin. Löhr kann sichtlich nicht mehr. Körperlich. Der müde Mann, dessen Schaffen mich nun schon so lange begleitet, müsste locker über 60 sein. Endrunde. Ehrenrunde. Winke.

Der letzte Morgen ist wolkig. Am verrammelten, heruntergekommenen Bahnhof von Glauchau wühlt ein fleckiger Rentner in den Mülleimern. Andere sitzen mit dem ersten Bier des Tages auf einer Bank. Mein Zug hat keine Verspätung. Vorbeiziehende Bäume. Felder. Sträucher. Masten. Leere Träume im leeren Abteil. Auf der Fahrt nach Hause werde ich immer noch breit sein.