
Brise. Raureif überm Marschland. Eine tote Möwe. Kein. Mensch. Wieder fällt der Grind der Hauptstadt von mir ab wie alte verfaulte Schlangenhaut.

Mein Blick wird sanft, das Gemüt offen. Kein Angriff zu erwarten. Ganz anders als sonst.

Misstrauen. Paranoia. Schießscharten. Mauerwände. Doppelte Böden. Fluchtskizzen. Pläne C, D und E. Notlügen. Ausflüchte. Finten. Nebelkerzen. Diese verdammte Schauspielerei. Das Schmierige. Um die Angriffe abwehren oder ablenken zu können. Alles das hier gerade nicht.

Ich atme durch, schlafe gut, so gut wie sonst nie. Keine Unruhe. Kein Koffein. Kein Speed. Nicht mal Alkohol. Kein Rumwälzen. Durchs Bett pflügen. Keine Zerschlagenheit am nächsten Tag, die mit Fassadenkleister und ungesunden Mittelchen kaschiert wird, um Leute zu täuschen, die ich nicht mag. Nur tiefer, geregelter, gesündester Schlaf in vollkommener Ruhe.

Straight Edge. Konsequent keine Drogen diese Woche. Gar keine. Nicht nötig. Dorfkäse. Hausmachermarmelade. Ein von einem Bauern selbstgebackenes Brot. Es fehlt mir an nichts.

Wollte viel erleben und habe viel erlebt. Rahmen sprengen. Regeln verletzen. In dunkle Ecken tauchen. Alles fühlen. Alles einnehmen. Alles mitnehmen. Keine Scheiße auslassen. Immer an der Kante, weil die Mitte so langweilig ist. Ich fühle mich nun oft auserlebt. Stand der Dinge. Alles erwartbar. Alles wie immer. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Schon alles gefühlt, schon alles gesehen. Was soll denn jetzt noch kommen …

Das Wasser ist apriltypisch eisig. Erfrieren muss ein Scheißtod sein. Zu kalt. Und dauert auch, bis man da ohnmächtig wird und diese wohlige Illusionswärme kommt, die das Abgleiten ins Garnichtsmehr vereinfachen soll. Erhängen ist auch grottig. Zu wenig Luft. Erschießen ein zu großes Risiko. Da überlebste nachher mit halbem Hirn. Oder geschrottetem Kiefer. Einem Auge. Sinnlos wie der Tablettencocktail. Weil du den nur auskotzt und dir dann übel ist. Gar. Keine Auswege. Alles keine Option. Ich bewundere Leute, die’s trotzdem bringen.

Der nächste Freund wird nächsten Monat bereits die Sachen packen und aus der Stadt ziehen. Er zählte mir eine Stunde lang mit dem Old Fashioned in der Hand die Gründe dafür auf, die schon andere vor ihm rausgetrieben haben. Das Publikum. Der Dreck. Der Gestank. Die in keinem Verhältnis mehr stehenden Kosten. Die zunehmende Kälte. Die steigende Aggressivität enger werdener Räume und verknappter Ressourcen. Der überall fehlende Respekt. Er ist nicht der Erste. Seit ein paar Jahren geht das nun so. Windrichtungen, jedwede. Was dazu führt, dass auch ich das erste Mal überhaupt ernsthaft ohne die fade gewordene Koketterie den Absprung aus dem Nährtank meiner Matrix in Betracht ziehe. Weil der Gedanke sich plötzlich gut anfühlt. Dünne machen. Aus der Stadt ziehen, in der mich gar nicht mehr so viel hält. Alles liegenlassen. Jeden zurücklassen, wenn dann überhaupt noch jemand dageblieben sein wird. Schnüren. Packen. Abreißen, den Popanz, abfackeln, die Fassade. Alle Erinnerungen im Sumpf meines längst überladenen Notizbuchs versenken und ab dato nur noch stumm Fotos von Landschaften machen. Es ist vielleicht wirklich Zeit, das dauerentzündete Hauptstadtloch voller ausgeleuchteter Schreiwanzen in seinem Morast liegenzulassen und sich sein unwürdiges Winden nur noch von Weitem anzuschauen. Die Wurzeln verfault. Die Verbundenheit geschleift. Die Sympathie verflogen. Jede Geduld aufgebraucht. Der Rest sind Striche an der geistigen Wand bis zu dem Tag, an dem es belastbar genug sein wird, zu gehen. Nach mir die Lava.
