Leipzig / 2023

Egal, wie oft ich zurückkomme, Leipzig fühlt sich immer an wie Heimkehren, dabei habe ich nicht lange dort gewohnt. Als Jugendlicher. Vielleicht liegt es daran, dass diese kurze Zeit zu den vergänglichen Episoden gehört, die einigermaßen glücklich waren in einer ansonsten doch in der Summe sehr unglücklichen Jugend. Unglücklich. Kein Glück gehabt. Blöde Leute. In eine wirklich außerordentlich beschissene Familie hineingeboren worden. Reihenweise falsche Entscheidungen getroffen. Prügel bezogen. Kopf gegen Mauer. Knüppel. Abgang. Arschtritt. Flachliegen. Aufstehen. Wieder flachliegen. Oft selbst schuld auch. Sicher. Kreiseldreher. Freidreher. Sackgassenrandalierer. Untherapierbar. Unsteuerbar. Kann man nichts machen. Manchen geht das so. Und an der daraus zugewiesenen Rolle arbeiten Sie dann halt oder gehen drauf.

(verstehen Sie nicht? Müssen Sie nicht. Ich versteh‘ mich ja selber nicht.)

Zu den Dingen, die sich ändern müssen, gehören auf jeden Fall Konzertbesuche alter, abgelegter Helden oder alter Weggefährten auf ihren letzten Metern. Ich habe sie auch fast alle durch. Es wird Zeit für Neues. Neue Bands mal. Junge Bands. Hungrige Bands. Raus aus den großen Hallen, zurück in die kleinen Butzen, die JuZes, die kleinen stinkenden Schuppen mit den bepissten Klos, Dorfblutpogo, neun Euro Eintritt, fünfzehn, einundzwanzig wegen mir, dafür drei Bands, wild, hart, unkonventionell, verdammt jung. Da komm‘ ich her, da ging ich weg, da will ich wieder hin. Bin dekadent geworden. Hotelzimmer statt Pennplatz. Uberfahrten statt Heimlatschen. Gediegener Single Malt statt des Jims. Tatsächlich auch Varieté. Theater. Was’n Abdrift. Ich bin das nicht und bin es doch. Lass ma‘ wieder erden, fool.

Im Zug dahin erschrecke ich mich. Da steht Beate Zschäpe. Selbe Fresse, selbe Frise, selbe Klamotte. Sie ist es. Ihr zerknittertes Omagesicht ist nicht zu übersehen. Ich will schon zu Wittenberg aus dem Zug aussteigen, bevor sie den noch anzündet, sehe aber, dass ich mich geirrt habe. Die Ähnlichkeit ist da, aber sie ist es nicht. Außerdem sitzt die Torte noch ihr Lebenslang ab. Vermutlich. Weiß ich nicht. Ich verfolge den Werdegang von Nazis nicht mehr so intensiv.

Im Crumpler habe ich zehn für die drei Tage vollkommen überzählige Gramm Lemon Jack dabei und weiß nicht mal, ob das in Sachsen unter die Toleranzgrenze fällt. Ob die überhaupt eine haben. Bestimmt nicht. Sachsen, das strukturkonservative Loch. Aber Leipzig ist ja nicht Sachsen, zumindest nicht ideell. Und ich frage mich, ob die scheiß Ampel ihr einziges Projekt, für das ich sie feiere, die Legalisierung von Cannabis, verkacken wird oder ob sie nur clever unter dem Radar der scheiß CDU fliegen, heimlich alles in Sack und Tüten stecken und einen Überraschungscoup gegen den drecks Merz landen. Weiß ich nicht. Aber wird Zeit. Dann brauch‘ ich mir um sowas wie Toleranzgrenzen keine Gedanken mehr zu machen. Dann packe ich mir einfach Gras ein wie frische Socken und gut.

(noooo-oooooh. Sie haben Hide the pain Harold als Werbebotschafter eingekauft. Ein shitty Reisebüro. No way, jetzt wird er uncool werden. Verdammte Axt. 

Bemerkenswerter Fun Fact, wenn Sie drauf stehen: Leipzig hat abseits der Touristentrampelpfade wenige öffentliche Mülleimer, trotzdem liegt kein Müll rum. Berlin hat alle zehn Meter welche, rangiert aber auf meiner weltweiten Liste dreckiger Großstädte bereits auf Platz 2. Hinter Kairo. Und dann kommt lange nix. Bevor dann Köln kommt.

Und komisch. Bin schon wieder alleine hier. Hat sich so eingeschlichen. Ich habe gar keinen Bock mehr, mit irgendwem irgendwohin zu fahren, selbst wenn ich noch jemanden fände, dessen fetter Arsch noch nicht am Chicken Bite Dip von Lieferando auf dem Sofa festgeklebt ist. Will gar keinen mehr dabei haben. Werde jetzt sonderlich. Ein Sonderling. Denn am Ende sind es immer Kompromisse, wenn Sie andere ins Boot holen. Kompromisse, die wegfallen, wenn Sie alleine fahren. Und die Leute kommen eh angewanzt. Fremde Leute. Es quatscht einen ja eh immer einer an. Ein Einsamer. Kontaktsucher. Schnacker. Wenn Sie alleine sind. Quatscht Sie immer einer an. Ich suche das Alleinsein und finde es wegen der anderen Menschen selten.

Was ich an der Szene speziell in Leipzig nach wie vor geil finde und von was anderem wird mich nie jemand überzeugen können: Es ist scheißegal, wer Sie sind, es ist superokay, dass Sie da sind. Egal wie Sie aussehen, wie alt Sie sind, was Sie im Gesicht kleben haben oder nicht kleben haben, egal. Niemand urteilt. Alles geht klar. Denn es ist nicht Berlin. Da geht nichts klar. Da legt immer ein Zentralkommitee fest, was gerade nicht geht. Oder einer sagt, was gerade nicht geht. Von oben herab. Herrisch und autoritär. Hier ist stattdessen LE. Frei und frank. Leben und lassen. So war das hier immer.

Diese sind nach wie vor die einzigen Leute, bei denen ich mich gar nicht verstellen muss. Bei denen es kackegal ist, was ich bin, was ich tue, wie ich tanze, was das soll, wo ich morgen sein werde. Niemand urteilt hier – in dieser Welt, die immer urteilt.

Ich möchte noch mit 80 in solche Läden gehen. Unter dem Gejohle der Anfang Zwanzigjährigen einen Pogo andeuten und auf die immerwährende Rücksicht der freundlichen Leipziger Punks bauen. Bin jetzt schon der Älteste, weil ich niemanden mehr kenne, der ab der bösen Vier noch in solche Läden geht. Meine Leute sitzen jetzt in Varietés. Im Musical. Beim Dinner. Eventgastro. Oder ganz schlimm: Auf Spieleabenden. Mit pausbäckigen Pärchen. Uargh.

Ich mag nie zu irgendeiner Mehrheitsgesellschaft gehören. Ich nehme mir irgendwann irgendeine Hütte in Polen und wohne da vor mich hin. Und wenn ich nicht dort bin, bin ich auf dem Sonnendeck. Bin ich, bin ich, bin ich.

(oder im Aquarium)

(oder … am Radar)

Was Kelly heute macht, weiß ich nicht. Kelly hieß Kelly, weil er wie einer von der Kelly Family aussah, welcher von den Kellyvögeln das war, der ihm ähnlich sah – keine Ahnung. Kelly hat mich an Industrial rangeführt. Weil er sagte, ich sähe aus wie Industrial. Und doof wie ich nun mal bin, habe ich dann auch Industrial gehört. Denn ich sah ja so aus. Hat Kelly gesagt. Und ich fand Kelly so toll, dass ich so sein wollte, wie Kelly sich tolle Leute vorstellt. Die Jugend. Ein Suchen und Suchen und Ehnichfinden. Ist halt so. Und ich bin froh, dass ich Kelly nicht sehen muss, wie er heute ist, ich möchte Kelly so behalten wie damals, als ich ihn beeindrucken wollte. Das macht sich als Konserve besser im Hirn als wäre Kelly heute hier, versoffen, verschissen, verfettet oder schlimmer: Verheiratet mit Spieleabend.

Ich bin ruhig, wenn ich ganz für mich bin. In der Hand mein Tullamore Cola. Als Teil des Kreislaufs des Pfandbechers. Ich bin so gönnerhaft und lasse jedes Mal mein Pfand samt Marke stehen. Kein Bock auf Pfandscheiß. Sicher arrogant. Hattanichnötig. Kannasichjetztleisten. Früher war ich der, der die Dinger – da noch ohne Marke – alle eingesammelt und sich über in der Summe zwei, drei Gratisbier gefreut hat. Von den Gönnerhaften, die gönnen. Jene vor mir, die ihr Pfand stehengelassen haben. Für einen wie mich. Heute lasse ich Pfand stehen. Für andere wie mich. Mein Gott …

Ich glaube, dass Reifeprozess bedeutet, nicht nur mit sich selbst zurecht zu kommen, sondern auch die Erwartungen runterzuschrauben. An alles. Gegenüber allen. Weil die Erwartungen nur Ballast sind. Besser auf den radikalen Realismus runterfahren. Meine Erwartungen sind geile Abende in geilen Städten auf Rausch. Mehr muss inzwischen nicht mehr. Kein Morgen. Kein Sinn. Keine Perspektive. Keine Position. Keine Urteile. Leute egal. Know your worth.

Um halb zwei nachts auf dem Heimweg kommt lalü. Drei Bullenwannen mit Blaulicht und ich schieb$ Para (was für’n geiler Tippfehler, ein Dollarzeichen, ich lass‘ das stehen, was für ein Mindfuck). Immerhin hab ich zehn Gramm Gras am Start. Genug um möglicherweise heute noch in ein sächsisches Freistaatsgefängnis abzuwandern. Aber natürlich passiert nix. Außer Para.

(der Einschub hat die Geschichte kaputt gemacht, scheißegal.)

Um sone Uhrzeit sind die Einzigen, die mit mir noch auf den zugigen, regennassen Straßen Leipzigs unterwegs sind, die Lieferradfahrer von Wolt, Lieferando, UberEats, was weiß ich, und mir kommt ein Verdacht: Den Ingenieuren geht das Prekariat aus. Jetzt holen sie sich ein neues Prekariat, das den Altbauwichsern mit ihrem verhurten Jugendstilstuck nachts die Quinoa-Avocado-Reisbowl in den vierten Stock liefert. Zum Mindestlohn. Weil das so funktioniert. Immer so war. Arm dient Reich. Vorzeichen egal.

Zu Essen kriegen Sie nachts um drei in Leipzig-West allerdings nichts mehr. Da ist Schluss. Ich hab’s versucht. Nicht geschafft.


Die Bands:

Horror Vacui (Bologna)

Kadeadkas (Köln)

Dividing Lines (LE)

Alle geil.


Bonustrack: Der junge Bäckereifachverkäufer, der mir Wrack frühst ein dampfendes Brötchen mit Kaffee verkauft, heißt – nein, kein gutgemenschter Paulanergartenkitsch, vallah – Herr Mohammadi und ist nicht nur der erste Mensch an diesem Morgen, der mir begegnet, sondern gleichzeitig der erste freundliche Mensch. Mit seinem niedlichen arabischen Dialekt. Bisschen nervös. Fingert er das Ding in die Brötchentüte. Bittet um Entschuldigung fürs Längerdauern. Haben Sie Geduld. Es wird schon. Alles wird schon. Irgendwann wird alles.


Leipzig / 2022

Wave-Gotik-Treffen 2019

Licht

Sächsische Fragmente

Connewitzer Spaziergang