Brandenburg an der Havel / 2023

Es pisst, als ich in Brandenburg ankomme. Der Februar ist ein Unmonat und ich fahre in ihm jedes Jahr auf Reserve. Winterschübe. Düstertänze. Das wird erst immer ab März besser. Eher April. Oder Mai. Das Gemüt ist mir immer wetteranfällig. Winter grütze, Sommer geil. Bipolar. Bis in die Haarspitzen. Machste nix.

Das Gras, das ich momentan dampfe, kommt auch aus Brandenburg, wenn auch nicht aus der Stadt Brandenburg, in der ich heute bin. Es ist ein kleines Dorf, dessen Namen ich nicht verrate, in dem ein Gärtner wirkt, der sein Brandenburger Homegrown zwischen anderen Pflanzen großzieht. Der Mann ist ein Glückstreffer. Kennengelernt bei ein paar Reihen Pep auf einer Party irgendwo in crappy Hermsdorf Hakenfelde Scheißegal. Ein lustiger Kerl. Mit gutem Zeug, das jetzt luftdicht verteilt hinter verschiedenen Sockelleisten meines Treppenhauses vor sich hin lagert. Wenn die drecks Hausverwaltung irgendwann die gelockerten Sockelleisten entdeckt und festleimt, bin ich im Arsch.

Den vorsätzlich herbeizuführenden Rausch runden Edibles aus Christiania ab, die mich sanft anheben und drei Stunden später sanft wieder absetzen; und als flüssiges Nervengift habe ich eine Flasche 12jährigen Tullamore dabei, von dem ich nie erwartet hätte, dass der gut ist, weil der reguläre höchstens colatauglich ist. Aber das ist er. Gut. Gut ist der. Zieht sich so weg. Ich kann bei diesem Wetter nicht anders als die Betäubung zu suchen. Februare sind zum Abgewöhnen. Nochmal: Ein Unmonat.

Vor dem Brandenburg an der Haveler Bahnhof wird Berliner Folklore gegeben. Will sagen: Menschen benehmen sich daneben. Irgendwer schmeißt Flaschen gegen einen Mülleimer, die nicht zerspringen wollen. Ein übel aggressives Pärchen schreit sich Bosheiten in einer Vehemenz entgegen, zu denen nur langjährig Verheiratete in der Lage sind. Und ein Besoffski mit der schlechtesten Haut der Welt, dem ich kein halbes Jahr mehr gebe, brüllt verschiedene Varianten von Hallo in verschiedene Richtungen. Mal mit langem A -Haaaaaallo! ‐ dann mit langem O – Hallooooooo – dann abgehackt – Hallohallohallo. Er sucht sich mich aus, kommt nah ran und riecht aus dem Maul nach Kot. Ja, hallo, grinse ich ihn an. Weil ich das kenne. Dass ich der Irrenmagnet bin, bestätigt sich auch hier wieder. Sie mögen mich, sie wollen mich, sie kommen zu mir und blöken mich voll. Meine Aufgabe in diesem Leben ist ihr Rezeptor zu sein. Damit sie die Dinge loswerden können, die sie beschäftigen. Hier: Halloooo. Haaaaaaaaallo.

Sie haben hier in Brandenburg eine Burgerbutze, die heißt natürlich… na? … genau, Branden-BURGER (oh no, fuck me …). Natürlich esse ich aus Prinzip dort nicht, weil ich von Wortspielen mit Burger inzwischen Ausschlag bekomme. An der Eichel. Den Arschbacken. Und im Hals. Burgerbutzen sind die neuen Friseure und ich hasse sie jetzt alle.

Brandenburg. City. Hundesalon Pudelwohl. FC Köfteburger. Klubhaus „Philipp Müller“. Mallorca meets Schlagerparty im Studentenkeller. VBB. Fahrplanhefte hier erhältlich. ADAC. Buchen Sie jetzt ihre Aidakreuzfahrt. Bratwurst. Chinapfanne. Mäckes. Ein Aufkleber. Support your local Antifa. Samstag. Die Läden verrammelt. Die Sitzbänke vermoost. Ein Hund pisst mitten in den Weg auf die Pflastersteine, in dessen Fugen sich das Pissrinnsal verliert. Das einzige sichtbare Leben findet in einem Einkaufszentrum namens Sankt Annen statt. Böse lugende Väter. Desillusioniert glotzende Mütter. Kinder, die nichts dafür können, dass sie hier geboren wurden. Diese Stadt deprimiert mich.

Torsten Gränzer gibt heute abend ein Konzert im Theater zu Brandenburg. Seine und meine Wege haben sich schon einmal gekreuzt. 2003. Für uns beide eine Umbruchzeit. Er, Frontmann einer erfolglosen Oi!punkband namens Fauxpas, icke ein Asselpenner ohne Ausbildung, Perspektive und Ziele, sich immer ab dem 15. des Monats broke durch die Stadt schlauchend. Ich mochte Fauxpas damals und einer ihrer Songs ist bis heute Favorit auf meiner Playlist, hat mich immer mal wieder aus den Löchern geholt, in die ich immer wieder aufs Neue gerate. Das macht Musik oft mit mir und Gränzers Musik macht das manchmal bis heute.

Es gibt alte Fotos von uns beiden, die ich hier aber nicht poste, weil zum einen ich nicht mit Bild im Internet stattfinden mag und zum anderen Gränzer kein Promi ist, dessen Persönlichkeitsrecht man einfach übergehen darf. Er hatte nie wirklich einen Durchbruch, dafür ist er wahrscheinlich zu verkorkst, steht sich wie ich selbst im Weg, hat zu oft auf die Fresse gekriegt, um normal zu sein. Alles das lässt seine Biographie durchscheinen, die ich natürlich gelesen habe, so wie ich immer mal wieder im Internet geschaut habe, wie es ihm denn geht, diesem Gruß aus der Vergangenheit, dem Fossil aus einem Leben, das nichts mehr mit dem zu tun hat, was ich heute bin, als ich ein Getriebener war, Verlorener, Gestrandeter, Perspektivloser, der damals, 2003, nicht wusste, wohin mit sich selbst, Orientierung gesucht hat und sie nie bekam, kaum Einkommen, keine guten Freunde, keine Idee, was werden soll, und immer diese Wände, gegen die der junge haltlose Mann lief – das alles hatte Parallelen zum Leben des älteren Gränzers, dem das selbst so ging und der davon sang.

Heute ist nichts mehr mit Oi!punk, Gränzer ist heute das, was man einen Liedermacher nennen würde, dessen übersichtliche Bekanntheit an der Stadtgrenze dieser beiläufigen Kleinstadt Brandenburg des beiläufigen Bundeslands Brandenburg endet – jetzt Teil eines ungleich wirkenden Dreiergespanns, mit dessen Musik ich wohl nichts anfangen könnte und darauf auch nie gekommen wäre, gäbe es diese kurze gemeinsame Geschichte nicht, in der er mir viel sagte und viel gab.

Ruhig ist er geworden. Hoffentlich endlich im Reinen mit sich selbst. Mit diesen kleinen Gigs in der ostdeutschen Provinz in sattsubventionierten Theatern vor einer Handvoll Hängengebliebener. Bisschen Wehmut schwingt hier mit. Bei mir. Auf meinem Sitz. Neben mir alte Schachteln wahrscheinlich mit Theaterabo. Man verklärt ja gerne das, was war, und wenn der Künstler nun da vorne steht, seine deepen, oft derben Texte zu Frau Burges Klavier und Herrn Schades Percussion wie für sich selber singt, dann habe ich das Bild wieder vor den Augen. Ich. Er. Beide 20 Jahre jünger. Verkacker auf der Bühne, lauter Verkacker im Publikum. Kommt er an, hält mir das Mikro hin und ich singe. Besoffen wie ich bin. Den einzigen Song, dessen Text ich auswendig kannte und bis heute kenne. Wovor hast du Angst – glaubst du dass du’s nicht kannst.

Ich war schon mal in der Stadt Brandenburg. Das ist drei, vier Jahre her, ich weiß es nicht. Auch da auf den Spuren eines alten Freundes, der zwei, drei Jahre mit mir einen Weg teilte. Konzerte, besetzte Häuser, Antifademos, ein halbes Jahr hat er in meinem Zimmer – mehr war es damals nicht – gewohnt. Matratze neben meinem Bett. Zwei Punks. Mehr brauchte es damals nicht. Wir haben beide mal superselbstüberschätzend gedacht, dass die Welt auf uns gewartet hat und wir krass geiler Teil einer alles verändernden Szene sind. Nennen wir ihn Tobias, Namen sind wie immer egal. Tobias, der fettige Punk. Ein netter Kerl. Zu gut. Kam nicht voran. Blieb zurück, als ich mich aus dem Morast, in dem wir zeitgleich landeten, freischwamm. Lange aus den Augen verloren, dann mal gegoogelt und ihn in irgendeiner filzigen Mittelaltergilde gefunden, als Schmied, zieht er von Mittelaltermarkt zu Mittelaltermarkt und verkauft Schmieddinge an Leute.

Ich fuhr da mal hin. Um mal zu sehen, was aus ihm wurde. Fand seinen Marktstand. Er hat mich nicht erkannt und ich habe nichts gesagt, weil es nichts bringt, Dinge aufzuwärmen. Das bringt nie was. Man würde sich nur alte Geschichten erzählen, sich in wehmütiger Scheiße suhlen, dann irgendwann würde man – mein Haus, mein Auto, mein Kind – feilbieten, wie man was wurde und alles zusammen ist so fad wie jedes Klassentreffen. Mir liegt das nicht.

Alt sah er da aus. Nicht gesund. Zu viel Met. Und Spanferkel vom Drehspieß. Rotes Gesicht. Zwergenschmiedebart. Erklärte er Kindern geduldig die Beinschienen, die er geschmiedet hat. Anders abgebogen, der alte Freund. Andere Entscheidungen getroffen. Ich stand da eine Weile. Schaute interessiert. Kaufte auch was. Eine Metallschüssel. Hängt jetzt in meiner Küche. Fabriziert von Tobias, dem Geist aus der Vergangenheit, der nicht wusste, wer da stand und das niemals wissen wird.

Brandenburger Fassadenreimkunst am Limit.

Als Gränzer endet, bleibe ich noch ein wenig in der leeren, zugigen Stadt. Denke nach. Wälze alten Kram hin und her und schreibe Notizen in mein Smartphone, aus denen später der Scheiß wird, den Sie hier lesen müssen. Sentimental. Melancholisch. Es nieselt. Ich bin sehr hacke. 20 Jahre her, diese kurze Episode in Berlin. Die gekreuzten Wege. 2003 bis 2023. Und dazwischen so viel. Das hat vor ein paar Jahren angefangen, dass ich begann, temporär in der Vergangenheit zu leben. Mir nochmal die Leute aus den Nullerjahren reinzuziehen, die noch da sind. Wo auch immer sie sind. Meinetwegen hier in Brandenburg an der Havel. Hat was von Abschied nehmen. Diesen Sommer werde ich Depeche Mode in Prag sehen. Fletcher ist schon tot. Zeit also, sie nochmal zu sehen, ehe auch Gahan und Gore das Baumwurzelwerk von unten betrachten und langsam verrotten. Im April kommen Die Art nach Potsdam in den Lindenpark, in dem ich zuletzt 2005 war. Millencolin ins Huxleys. Und New Model Army müsste ich auch nochmal, bevor die … naja …

„Life is better with friends“ steht in einem kitschigen Poster gerahmt über dem Bett meines über Booking geschossenen Schlaflagers. Was nicht passt. Weil ich wieder alleine unterwegs bin. Was ich hier mache ist nicht mehr mehrheitsfähig. Das wird zunehmend häufiger die letzten Jahre und ich finde es sogar gut. Seit die 40 überschritten ist, verschwinden mehr um mehr früher harte Jungs auf bequemen Sofas mit Schutzbezug. Laden zum Rumtasting in Leonardogläsern mit Untersetzer ein. Gibt Häppchen dazu. Selbstgebeizten Lachs. Oder heiraten sogar und stehen für abgesiffte Wochenenden in anderen Städten nicht mehr zur Verfügung. Weil schon der Pärchenabend mit Gesellschaftsspielen geplant ist. Trivial Pursuit. Kniffel. Oder ganz verwegen mit silbernem Pokerkoffer. Man muss auf die erste Scheidung warten, dann geht’s wieder, sagt man.

So bleibt wenig in Erinnerung. Dass ich es hacke nicht geschafft habe, die Schlaufe des Handtuchs auf den zu dicken Haken des Badezimmers zu bugsieren. Dass Brandenburg an so einem Februarwochenende wirklich menschenleer ist. Dass meine Großcousine, die für mich als Jugendlicher die schönste Frau der Welt war, schwer an MS erkrankt ist. Was ich beim Kacken von einer altmodischen SMS erfahre. Dass eine Woche später hier genau an der Stelle, an der Gränzer gerade sang, ein russisches Sinfoniekonzert gegeben werden wird. Dass ich in ein paar Jahren der Letzte, den ich kenne, sein werde, der Drogen nimmt. Dass ich den Barkeeper von der Agentenzentrale vollgelallt habe – Machsungeilen Jobb Alta, geila Jobb, nag nag. Und dass es am Ende darauf ankommt, wie gut man mit sich selbst klar kommt.