Meanwhile in Nikolassee

Ich habe Zeit. Bin zu früh dran. Ausnahmsweise fiel keine der S-Bahnen aus, was ich als Berliner, dessen Infrastruktur nun mal die von Berlin ist, immer für den Fahrtweg einkalkulieren muss. So dass ich jetzt hier rumstehe. In Nikolassee. Das Wetter ist spätsommerkaiserlich und ich drehe eine Runde.

Villen. Pflasterwege. Pflasterstraßen. Eine Optik wie die 60er. Auf den Postkarten, die sie hier sicherlich noch schreiben. Die Zeit ist hier stehen geblieben. Chruschtschow. Nixon. Nicht weit weg der böse Osten im Westen von hier. Den Villen sehen Sie das Genage der Zeitzähne an. Vermooste Dächer. Vermooste Statuen. Vermooste Ziersteine. Vermooste Treppen. Den zweifellos vorhandenen Reichtum bemerken Sie hier an der alten Substanz, aber vor allem an den Autos. Jaguar ist die bevorzugte Automarke. Ich zähle gleich mehrere davon. Aus verschiedenen Epochen.

Ich bewundere es, dass es Leute gibt, die hier wohnen können. Ich würde ausrasten. Stündlich. Weil hier nichts passiert. Vögel. Blätterrauschen. Ein Eichhörnchen. Zwei Eichhörnchen. Dann ein drittes. Ein wackeliger alter Mann auf einem alten Fahrrad, der entschuldigend winkt, da er wegen der altpreußischen Straßen auf dem kaum weniger holprigen Gehweg fahren muss. Mehr ist nicht und das macht mich nervös. ADHS olé. Bei mir muss immer was passieren, sonst drehe ich durch. Doch hier passiert so wenig, dass sie mich wohl schon nach einer halben Woche als nervliche Havarie abholen kommen würden. Lalü. Gummizelle. Einschluss. Downer. Diagnose Nikolassee.

Ein alter Opa gießt die Straßenbäume mit einem Schlauch. Das tut er akribisch. Baum für Baum. Der Gartenschlauch ist bemerkenswert lang. Er scheint extra diese Gartenschlauchüberlänge gekauft zu haben, um die Straßenbäume seiner Hood mit dem Wasser aus seinem Haus bewässern zu können. Ich bewundere das. Dieser Einsatz für die Gesellschaft. Den öffentlichen Raum. Mir völlig fremd. Ich bin Neuköllner. Wir kotzen gegen Straßenbäume und bewässern sie sicher nicht mit Wasser, sondern maximal mit Urin oder dem Brackwasser vom Eimer, mit dem wir die klebrigen Böden der fiesen Siffkneipen gewischt haben. Unser Einsatz für Räume endet an der Türschwelle. Und manchmal schaffen wir nicht mal das. Nix Opa. Nix Bewässern. Nur runterrocken können Neuköllner gut. Ich bin kurz versucht, als Statement meinen Kaugummi auf die Straße zu spucken, um zu schauen, wie die Bevölkerung reagiert. Doch ich tu’s nicht. Hier ist nicht Neukölln. Hier würde wahrscheinlich die Polizei kommen. Ein Bußgeld wegen Kaugummispuckens verhängen. Und das Bußgeld ginge als Zuwendung an die evangelische Landjugend.

So fremd hier. Alles. Alles fremd. Nicht mein Konzept für so ein Leben. Alles eingebettet in uralte Strukturen. Alles abgesichert. Reich. Reicher. Understatementreich. Alles immer so wie es immer war. Auch Streetart finden Sie hier kaum. Auch kaum Tags. Fast keine gepinnten Zettel mit Botschaften drauf, bis auf den einer Witwe, die eine neue Bleibe sucht. Natürlich in der Gegend. Nikolassee. Bis Schlachtensee. Sonst bitte nicht. Man weiß ja was man hat.

Nikolassee ist sowieso die reinste Geriatrieparade. Der Altersdurchschnitt wirkt wie 108. Krücken. Rollatoren. Dicke, klobige, sehr teure Autos, aus denen elektrisch betrieben futuristische Rampen gefahren kommen. Immer wieder sehen Sie auch externe, hier unpassend wirkende Kleinwagen, um die Wonneproppenfamilien stehen, die den Greisen dieses ortsteilgewordenen Friedhofs stolz den produzierten Nachwuchs präsentieren. Wer von hier erbt, hat ausgesorgt.

Kleingewerbe auch. Smells like sixty years old. Coiffeur Raguse. Tradition seit 1953. Teppichwaschcenter. VIP Nails & Spa. Le Petit Four Patisserie. Haushaltsauflösungen. Antiquitäten. Haltestelle der Autobücherei. Ein kleiner Bullenposten für die Eierdiebe und mich und meinen Kaugummi. Schreibgeräte. Slogan: Schreiben, Spielen, Schenken, Dekorieren. Ein Restaurant namens Speisenwerkstatt, von dem ich froh bin, dass es nicht Manufaktur heißt wie Prenzlauer Berg das machen würde. Ein 60er-Jahre-Westberlin. Vermutlich denken sie hier noch, der Regierende Bürgermeister hieße Brandt. Und nicht … Dings … die grinsende Alte mit der Doktorarbeit, die hier gerade regiert … wer war das noch … Ginseng … Gibbon … Gafron … egal.

Oh. Eklat. Ein Typ pisst an den Bahnhof und der bin nicht ich.

Schwöre.

Ehrlich, in Kreuzberg würde ich jederzeit an den Bahnhof Yorckstraße pissen. Weil der das verdient hat. Aber hier? Nicht. Es kommt mir falsch vor.

Mein Anwalt praktizierte in Nikolassee, damals, als ich gleich mehrere Strafermittlungsverfahren parallel hatte, aus denen er mich rauspauken musste. Jahre her. Strengenommen schon fast zwei Jahrzehnte. Steht irgendwo in diesem Blog, die Geschichte, egal. Buchstaben im Wind. Er war ein Schlumpf, dieser Anwalt. Kettenraucher. Säufer. Hurenbock. Was anderes als sowas verteidigte mich damals nicht. Nur solche. Welche, bei denen Sie sich gleich freiwillig die Vorstrafe ins Führungszeugnis schreiben können. Aber, lucky me, ich bin trotzdem immer freigesprochen worden. Mangels Beweisen. Zweite Klasse. Dabei war ich’s fast immer. Der das Vorgeworfene gemacht hat. Bis auf ein Mal. Fast immer schuld. Und doch nicht vorbestraft. Bis heute. Ein bescheuertes Glücksschwein. Zentnerweise mehr Glück als Verstand. Andere rasseln ohne eigenes Zutun irgendwo rein, verfangen sich darin und werden vom System aufgebockt, durchgefickt, verklappt und ausgekackt. Ich dagegen war meistens schuldig wie jemand schuldig sein kann und mich hat das System verschont. Nie verurteilt. Und ich verstehe das bis heute nicht. Hätten sie mich nur einmal verknackt, wäre ich heute ganz woanders. Sicher nicht hier. Oder gar nicht mehr da.

Ich habe nachgeschaut. Am alten Haus. Meinen Anwalt gibt es nicht mehr. Google findet ihn auch nicht mehr. Ausgeschlumpft. Totgesoffen. Lungenkrebsverraucht. Oder eine seiner Huren hat ihn abgestochen. Oder ein Zuhälter. Oder seine Exfrau, weil die Alimente ausgetrocknet sind. Weg. Gone with the wind. Der Anwalt ist fort und ich bin noch da.

Dafür sehe ich das Schild einer Anwältin mit dem Nachnamen Gurke. Haha. Jaja. Doch doch. Wartense mal ab. Ich bring‘ den. Hier: Haha Gurke. Lol. Ich würde ja heiraten. Einen Mann, der Salat mit Nachnamen heißt. Und dann einen Doppelnamen machen. Einfach zum Trollen. Wenn schon Punkrock dann richtig. Gnihi. Gnarf Gnarf. Herr Anwalt Mark Salat-Gurke. Brüller. Krchchr. Schlichter Humor. Sehr schlichter. Icke. Wissen Sie doch. Niveau ist überall anderswo.

Vor vielen Jahren war ich hier irgendwo auch mal essen. Ein 60er-Jahre-Italiener. Konzeptitaliener. Mit-Tand-überladener-Gastraum-Italiener. Ganz gruselig. Verknoblauchte Pizza. Kohlensäurefreie Cola. Dafür ein Publikum aus der Hölle. Fette feiste laute Zahnärzte und Direktoren. Mit Direktoren- und Zahnarztgattinnen voller Klunker behangen wie obszöne Weihnachtsbäume. Altes Zehlendorfer Geldadelsgeschlecht, von derem schieren Anblick mir schlecht wurde. Besungen hat uns eine italienische Kombo mit Keyboard. Die italienische Schlager gegeben hat. Felicita. Senza una donna. Se bastasse una canzona. So lange, bis die fetten lauten Zahnärzte und Direktoren irgendwann mitsangen. In schiefem Italienisch. Der Combo das Mikro aus der Hand nahmen. Es rumreichten. Und die gesichtsverkleisterte Sängerin auf ihre Schöße zogen. Es war arg schlimm. So viel Grappa, mit dem ich mir gerne das Hirn ausgeblasen hätte, gab’s in der ganzen Pinte nicht, die ich auf einem Bewertungsportal namens Qype mit vollem Recht in Grund und Boden rezensiert habe.

Tick. Tock. 16 Uhr. Danke für die Geduld mit der Reise ins Früher. Ich muss jetzt los. Der Kunde wartet. Ich werde pünktlich wie immer sein. Hemd. Legeres Jäckchen. Keine Krawatten mehr. Krawatten sind tot. Schuhe blank. Ansteckendes Lachen sitzt. Ich bin gut drauf. Wie immer, wenn ich kurz mal in den eintauche, der ich mal war, und dann wieder auftauche, um den zu spielen, der ich jetzt bin.