Intro: Ich reposte hier einen Teil eines Berichts zu einer längeren Reise im Jahr 2018 und zwar den Teil, der Odessa betrifft, eine Stadt, die gerade beginnt, unter Beschuss zu stehen. Wer den ausufernden Reisebericht zu Transnistrien kennt, der kann sich das hier schenken, denn es steht nichts Neues drin, es ist nur ein Repost. Wort für Wort. Aus Erinnerung. Sentimentalität. Und Ärger darüber, dass es manchmal so kommt wie es kommt. Bitte sehr:

Die Ausreise aus dem illegalen Staat Transnistrien in die Ukraine verläuft anstrengender als die Einreise. Dieses Mal beschäftigen sich drei transnistrische und zwei ukrainische Beamte mit mir und vor allem mit dem Auto. Es kostet mich anderthalb Stunden. Davon viel Warten auf immer irgendeinen anderen Offiziellen, der mir den Pass abnimmt, ihn mir wieder gibt, ihn dann wieder abnimmt, wonach ein neuer Offizieller kommt und den Pass will. Ein blödes Spiel. Dann der Stempel, sie sagen was, was ich als „Gute Fahrt!“ oder „Verpiss dich blöder Penner, der du uns so viel Arbeit gemacht hast“ interpretiere und einen Atemzug später bin ich in der Ukraine.

Kaum verlasse ich Transnistrien, werden die Straßen beschissen. Die Ukrainer halten keine 20 Meter hinter der Grenze durch, ohne ihre Straßen runterzurocken. Narben. Rillen. Üble Schlaglöcher. Gerne mal 20 Zentimeter tief. Oder tiefer. Keine Ahnung. Die Dinger sehen tödlich aus. Auf den sechsspurigen Hauptstraßen in Odessa müssen Sie Slalom fahren, weil Sie sich sonst die Kiste ruinieren. Was ich schaffe. Ich zerschieße mir mit einem Schlagloch einen Vorderreifen. Felge verbeult. Reifen platt. Lustigerweise direkt vor einer Werkstatt. Vor der ein Bärtiger steht und mir wissend zunickt. Ich bin ein Glücksschwein. Ich habe irgendwie immer Glück in solchen Katastrophen. 50 Euro und alles ist wie neu. Felge. Reifen. Glücklich sein.
Sie haben viele Werkstätten in Odessa. Und brauchen die wohl auch.
Horrorclowniges gibt es auch: Ich kann die blöde Fritz Limo mit den zwei Hackfressen drauf kaufen und tue das auch noch:

Und die Springbrunnen sind nicht nur sauber, sondern funktionieren. Wir kennen so etwas aus Berlin nicht. Berlin betreibt kaum noch Springbrunnen, weil immer entweder einer reinpisst, blöde Influencer Waschmittel reinkippen, einer drin, davor oder drauf einen anderen absticht oder der Brunnen gleich ganz zertrümmert wird.

Ich König der Narren habe mich in einem stinkenden Hostel mitten in der Stadt eingemietet. Das Ding ist auf meiner eh schon üblen Übernachtungsskala ein weiterer Ausreißer nach unten. Stinkende fleckige Matratzen, deren Spannbetttuch gerissen ist, ein Fenster, das nicht geöffnet werden kann, null Jalousie und zwielichtige Stromkabel kreuz und quer über Putz. Und besoffene Westeuropäer, die über den Flur brüllen.

Ich flüchte aus dem Hostel auf eine Parkbank vor einer Schule. Etwas passiert. Aufgeregtes Lehrpersonal rennt hin und her, es werden Dinge drapiert, Luftballons, Zettel, es wird wild herumgestikuliert, eine Kapelle verschwindet im Gebäude, dann kommen Kinder, maximal achtjährige Jungs und Mädchen in Anzügen und weißen Kleidchen, Hand in Hand in Zweierreihen, gefolgt von aufgedonnerten Müttern, von denen jede einzelne ein Kunstwerk auf zwei Beinen ist. Hochtoupierte Betonfrisuren. Dekolletés, die Sie so sonst nur noch auf XHamster (und in Osteuropa) sehen. Lebensgefährliche Absätze. Riesigen Christbaumschmuck an den Ohren. Blink Blink. Es ist ein wichtiger Tag heute. Bohei Bohei. Abschlussfeier wohl. Oder Einschulung.
Dann verschwinden alle im Schulgebäude und plötzlich ist alles wieder still. Ein Schauspiel. Ich mag es, mich in fremden Städten einfach auf eine Bank zu setzen und zu schauen, was passiert. Und manchmal passiert halt viel. Ihr Alltag trifft mein Staunen.

Aber auch hier wieder: Die Frauen. Deren Auftritt mich sprachlos macht. Klassisch. Elegant. Charismabomben. Jede eine Diva. Der Auftritt, der Auftritt. An einem ganz normalen Werktag. Ich bin völlig hinüber. Wie immer in Osteuropa. Kiew. Budapest. Tiraspol. Odessa. Immer wieder ein Flash. Was klar ist. Ich komme aus Berlin. Bei uns kombinieren Frauen wie Männer einen ewiggleichen Chick aus Germanistikstudium und Obdachlos und finden das originell.
Ich würde des zu erwartenden täglichen Dramas und der vermutlich nicht unerheblichen Unterhaltskosten wegen keine von den aufgeplusterten Diven dauerhaft in meiner Nähe haben wollen, aber mit etwas Abstand sind sie beeindruckend anzuschauen. Wie Pfaue. Die finde ich gut, wöllte sie aber auch nicht in meiner Wohnung haben.

Aber ich muss den Blick auf die ukrainischen Frauen doch ein wenig ausdifferenzieren, denn an einem eigentlich perfekten Abend, an dem ich beim Bier in der außerordentlich lebendigen Innenstadt sitze und mir selbst genug bin, nehmen mich zwei Huren in die Zange, die nicht nur außerordentlich hässlich sind, sondern mich in einer konzertierten Aktion gemeinsam weichkochen wollen, weil auch sie mich als wandelnde Geldbörse identifizieren. Ich habe sofort keine Ruhe mehr. Darling. Where do you come from? Sweetie! Kiss me. Come on! Come oooon! Hände auf dem Arsch, Hände am Schwanz, Hände im Gesicht. Bis ich gehe.

Am nächsten Tag suche ich Ruhe im Botanischen Garten auf einer Bank, nicht weit weg von mir in Sichtweite ein massiver Baum. Innerhalb von einer halben Stunde kommen sechs Menschen und umarmen diesen Baum. Schmiegen ihren Kopf an den derben Stamm. Reiben den Körper dran. Zwanzig Minuten. Fünf Leute. Baum drücken. Und dann gehen sie wieder. Dann ein Pärchen. Umkreist den Baum. Und drückt ihn. Eine Familie. Zwei Ommas. Immer dasselbe Spiel. Umkreisen. Drücken. Gehen. Ich versuche zu googeln, was das soll, und scheitere, weiß daher bis heute nicht, was die Odessaner da machen. Esoterik vermutlich. Mit Esoterik kenne ich mich aus. Ich bin aus Prenzlauer Berg. Wir sind quasi Esoterik als fleischgewordener Bezirk. Hier, es war sowas vielleicht, eine Parade aus Baumknutschern: Wenn Sie einen Baum umarmen, umarmen Sie sich selbst bla bla. Und wenn Sie Heilsteine fressen, kacken Sie brockig.
Ich habe den Baum nicht umarmt und werde deswegen vermutlich irgendwann sterben.
Epilog 2022:

Berliner Zeitung: Wie man eine Nacht in Odessa übersteht: „Wir schlafen manchmal gar nicht“
Der reisende Reporter: Ein Spaziergang durch Odessa
David Orlowski Trio: Night train to Odessa
Und eine ukrainische Blaskapelle spielt exakt an der Stelle, an der ich 2018 noch stand …

… jetzt 2022 vor Sandsäcken den Song „Don’t worry, be happy.“
Sie kennen mich. Ich bin wirklich nur noch selten angefasst und jaja, Infowar, Heldenkitsch, Wirkmacht der Bilder bla bla, aber ich stelle fest: Treffer bei mir. Voll ins Gemüt. Die beste PR hat ganz klar die ukrainische Seite, sie drückt die richtigen Knöpfe und spielt die Klaviatur der Öffentlichkeitsarbeit bis ganz nach oben bravourös, während der Kreml in seiner Außenwirkung nach Blei, Beton und Breschnew müffelt. Just sayin’…