Wesseling / 2022

Weil ich Köln zu hässlich finde, um dort noch einmal übernachten zu wollen, habe ich in Wesseling eingecheckt. Ich bin früh da. Kam gut durch. Zwei Nächte werde ich hier sein. Das Wetter ist übel, doch ich will trotzdem viel draußen sein. Ich war hier noch nie. Ich wusste gar nicht, dass es Wesseling gibt. Ich will schauen, wie es hier ist.

Wesseling ist eine Ansiedlung, die sich in plakativer Selbstüberschätzung auf jedem verfügbaren Schild Stadt nennt, mit einer schrägen Mischung aus chromblankem Industriechick und spießigem Einfamilienhausparadies. Umspannwerke. Chemiepark. Shelltanks. Plastikfabrikareal. Silos. Rampen. Stahltore. Container. Rohre. Stromtrassen. Logistikhölle. Eine verdammte Autobahn mitten durch den Ort. Der gesamte Zustand ein Relikt des alten brutalen Westdeutschlands. Auto. Motoren. Industrie. Schlote. Enge. Wen juckt schon diese Siedlung, Mensch. Fortschritt! Durch da. Fresse alle mal. Autobahn! War damals so.

Als Kontrast zur Brutalität der übergriffigen Industriegelände um die Ansiedlung herum macht es sich der Wesselinger auf seiner Parzelle schick. Auch im anderen Extrem ein konserviertes Bilderbuchwestdeutschland wie ich mir Westdeutschland von früher vorstelle. Blumenrabatte. Akkurater Rasen. Kackbrauner Vollklinker. Glasbausteine. Fensterschmuck. Tatsächlich Gartenzwerge. Unendliche Vorstadtlangeweile. Den empfohlenen Balkangrill, der mir liefern wird, nennen sie hier noch Jugoslawen, auch wenn er sich längst das kroatische Wappen vor die Tür gehangen hat.

Zwei Wörter, die mir zur Gesamtatmosphäre einfallen: Helmut und Kohl.

In Wesseling betreiben sie eine obszöne Form von Mülltrennung. Ich bin Berliner und Berliner trennen keinen Müll. Zugezogene erkennen Sie in Berlin daran, dass sie kurz nach ihrem Einzug für den Hof weitere Sorten an Mülltonnen fordern, von deren Existenz indigene Berliner bisher noch nichts wussten.

Der Vermieter betreibt für die Wesslinger Mülltrennung ganze zwei Unterschränke mit je drei Behältnissen. Seine für diese Behältnisse liebevoll drapierte wortreiche Betriebsanleitung überfordert mich, so dass ich beschließe, wie in Berlin ausschließlich den Restmüll zu nutzen.

Dumm nur, dass es kein Restmüllbehältnis gibt, so dass ich beschließe, so viel Restmüll wie möglich gemeinsam mit dem stinkenden Biomüll zerkleinert in die Toilette zu spülen und den Rest in den öffentlichen Mülleimern zu versenken. Das löst mein Problem mit Wesselings Mülltrennungskorinthen, für deren intellektuelles Durchdringen Sie eine Professur brauchen. In Müllologie.

Ich habe vor ein paar Wochen ein weiteres unqualifiziertes Gespräch mit dem Kind geführt. Das mache ich öfter mal, weil ich nämlich sehr unqualifiziert bin. Es ging um Mülltrennung.

„Papa, wieso trennst du keinen Müll?“

„Weil die Recyclingunternehmen mit dem getrennten Müll sehr viel Geld verdienen und ich keinen Bock habe, deren Arbeit zu machen.“

„Wieso verdienen die damit Geld?“

„Na, die verwerten das Getrennte wieder, beziehungsweise verkaufen es. Aber die Arbeit fürs Trennen sparen sie sich gerne, weil sie sonst Leute bezahlen müssten, die das tun.“

„Aber mit Trennen schützt du die Umwelt.“

„Nein, ich mache nur die Recyclingunternehmen reich. Das mit dem Umweltschutz erzählen sie nur, damit die Leute für sie die Arbeit kostenlos machen und überhaupt mit etwas beschäftigt sind, mit dem sie sich moralisch höherwertig vorkommen können. Deutsche brauchen das.“

Das Kind hat mein unqualifiziertes Statement natürlich weitergetragen. Die Mülltrennung bei sich zuhause in Frage gestellt. Eine rebellische Agitation gegen die Recyclingmafia in die Küchenluft gekräht. Und den unseriösen Papa als Zeugen benannt. Gab ne Rüge. Darf man dem Kind auch nicht mehr erzählen sowas. Verdammt. Je älter ich werde, desto öfter sage ich Dinge, die ich nicht sagen darf.

Wesseling. Audi Sport vor schmucklosen Garagen. Schwarzmetallic. Tatsächlich tiefergelegt. Breitreifen. Windschutzscheibenaufkleber. Mit dem Schriftzug Audi Sport. Und einem Heckscheibenaufkleber. Frei.Wild. Mein Rücklicht und mein Mittelfinger zeigen dir wo ich stehe. Soso. Leider hat er keine Rallyestreifen.

Mehr Wesseling. Araltankstelle. Super Wash. Sichtbeton. Waschbeton. Plakate ankleben verboten. Taxi Time. Immer für Sie da. Pizza Haus. Fresh und Hot. Der Balkan Best Burger ist halal. Für nebenan in Brühl annonciert der Große Stoffmarkt. Vor dem Schnelltestzentrum grüne Aufkleber eines Coronaausschusses. Drive In-Coronatestdystopie in einer Werkshalle. Schutzanzug-Homer-Simpsons mit Teststäbchen in der Hand, die sie routiniert in die Seitenfenster der Autos halten. Ich muss da morgen auch hin in diesen realitätgewordenen Albtraum.

Der schlimmste Albtraum jedoch wären jetzt zwei Wochen Quarantäne. In Wesseling. Mit Blick auf den Sichtbeton.

Dann wird es dunkel. In der Nacht bellt katarrhalisch ein Hund. Drei Uhr. Vier. Dann fünf. A-WOUWOUWOUWOUH! Sonst nichts. Kein Geräusch außer das Autobahnrauschen. Und der Hund, der mich wach hält.

A-WOUWOUWOUWOUH!

Man darf nachts katarrhalisch bellende Hunde nicht erdrosseln, um sie von ihrem Elend zu erlösen. Auch nicht erschiessen. Man muss sie ertragen wie alle anderen Arschlöcher dieser Welt auch. Ich bedaure es in dieser Nacht mehrmals, dass das so ist.

Wesseling. Aufkleber. Mach‘ meinen Kumpel nicht an. Rostige Brücke mit aufgeplatztem Asphalt. Überwachsener Weltkriegsbunker im Unterholz. Silos. Schornsteine. Brennnesselplage trotz Winter. Die männliche Jugend kombiniert den gammelgrauen Hoodie mit heruntergekommenen schwarzen Jacken und tadellosen weißen Sneakers. Die jungen Frauen kombinieren abgekeimte schmierige Sneakers mit weißen Tennissocken, die sie über Jogginghosen oder Leggins ziehen. Sieht natürlich scheiße aus und war alles schon mal da. Die Kombi. Schwöre. Alles das war so schon mal da und auch schnell wieder weg. Ende 90er. Anfang Nuller. Glaub‘ ich. Da gab’s das schon mal mit den Tennissocken über der Jogginghose. Zumindest in Neukölln.

Ich muss heute reden. Und zuhören. Wieder reden. Mehr reden. Dann wieder zuhören. So ist der Job halt, der mir immer noch Geld aufs Konto schaufelt. Für den Borgwürfel muss es eine blöde Situation sein, wenn einer der wenigen Ungeimpften, die sie in ihrer Berliner Büroflurödnis so mühsam mit ganz vielen Regeln von den anderen separieren, gleichzeitig einer der Letzten ist, den man wegen der vielen sich im Homeoffice selbst verwirklichenden Kreisedreherinnen und E-Mails-Weiterleitern nach Westdeutschland schicken kann, um vor komischen Leuten komische Vorträge über unsere komischen Produkte zu halten. Nahezu alle anderen, die sie vor ein paar Jahren bei der großen Work-Life-Balance-PR-Aktion aus dem Millennialpool des leergefegten Arbeitsmarkts in die Festanstellung gefischt haben, lehnen das Reisen und die damit einhergehende Produktpropaganda ab. Aus Work-Life-Balance-Gründen.

Wesseling. Schlaglöcher wie Berlin. Bröckelnde Bordsteine. Verrottete Sitzbänke an zugigen Straßenrändern, um deren abgeplatzten Lack sich kein geldgebender Pate kümmern mag. Kackbraune Klinkerhölle in Reihe. Sogar Sechsgeschosser in kackbraunem Vollklinker. Bis hoch zum Flachdach. Moosbewachsene Leitplanken. Moosbewachsene Zäune. Moosbewachsene Schilder. Glascontainer. Stromkästen. Wesseling mag Moos und lässt es wachsen.

Natürlich haben wir ein Hygienekonzept, an das sich aber wie immer keiner hält. Schon nach zehn Minuten fragt der Erste, ob wir denn alle damit einverstanden sind, die nervigen Masken abzunehmen (natürlich sind alle einverstanden, sie sind es immer), der Desinfektionsspender ist uralt, weil er nie von irgendwem benutzt wird, und gelüftet wird wie früher nur in der Pause. Weil’s kalt draußen ist. Business. Wie immer halt. Rahmenbedingungen sind vorgeschrieben und keiner hält sich dran.

Die Unterkunft, die sie mir gebucht haben, ist dieses Mal kein Hotel, sondern aus Anti-Ansteckungsgründen (kein Witz, ich schwöre) eine Apartmentvermietung. Ich hadere mit der Tatsache, dass mir der Borgwürfel jetzt besondere Unterkünfte bucht, um mich vor Infektionen zu schützen. So ist das jetzt. Ganz Deutschland ein Hygienekonzept. Mit Polstern an allen Wänden. Und alle passen sie auf mich auf. Alle möglichen Nannys. Und wenn mich das stört, weil es mir das erdrückende Gefühl einer Zwangsjacke gibt, werden sie sauer.

Wesseling. Froschkönig der Blumenladen. Bronx Rock Kletterhalle. Action Schnäppchenmarkt. Leergefegter Alfons-Müller-Platz. Wind. Regen. Dummes Wetter. Am Zaun der Moschee im prekären Randgebiet posiert eine Werbung für Garten- und Landschaftsbau. Und eine für Automobile. Umzüge. Ingenieurbüro. Und dahinter liegt die Autobahn.

Rauschen. Wesseling rauscht. Pausenlos.

Auf der Laufrunde kommt mir auf Höhe einer Spedition mit dem bescheuerten Namen Fruchthansa ein Läufer mit Schwimmflügeln entgegen. Wogegen beugt der vor? Eine Sintflut? Rheinhochwasser? Steht es so schlimm hier? Ich dachte, dass nur Berlin solche Exzentriker sein Eigen nennt, aber nein. Schwimmflügel trägt der Mann. Beim Laufsport. Wahrscheinlich eine Wette verloren. Zu Karneval. Schwimmflügel oder Funkemariechen. Kannste dir aussuchen. Hahaha. Kamelle.

Wesseling ist so trist, dass sich meine Pulsadern ganz von alleine öffnen wollen.

Und mein Verdauungstrakt stellt den Soundtrack dazu. Die zuckerfreien Energydrinks, die ich tagsüber wegen der vom nachtbellenden Hund fabrizierten Müdigkeit in vollkommen unvernünftigen Mengen zu mir nehme, weil sie mich wach halten und den Hunger so schön abschalten, bewirken eine deutliche Veränderung im Darm. Ich scheiße nur Wasser. Klares warmes Wasser. Es fühlt sich an wie das geplante Resultat dieses ekelhaften Abführmittels, das Sie vor einer Darmspiegelung nehmen müssen und das Ihnen die letzten Tropfen Flüssigkeit aus dem Körper presst. Ich bin sowieso wieder ein Surfer am Rand jeder Stabilität nach zwei Jahren weitgehender Unproduktivität. Zittern. Fahrigkeit. Pochende Schläfen wie bei einem Kater, auch wenn ich gestern vergleichsweise wenig gesoffen habe. Ein Drücken im Schädel wie das mutwillige Herbeiführen eines Hirnschlags. Magenschmerzen wie sich Ausweiden anfühlen muss. Erst Immodium kombiniert mit dem Rest eines Röhrchens Pep bringt etwas Klarheit in den Auftritt, an dessen Ende sie patschefreudig auf die Tische klopfen. Was ich mache ist alles nicht gesund und ich mache es trotzdem so. Und niemand merkt was.

Fassade. Es geht in allem immer nur um die Fassade.

Gegen die Langeweile verdampfe ich zum Nachmittag des zweiten Tages, als die Kür vollendet ist, medizinisches Cannabis. Ich habe es von jemandem geschenkt bekommen, der das Zeug auf Rezept kriegt, vor lauter Folgerezepten darin ersäuft und deswegen nicht weiß, wohin damit. Früher war ich mal neidisch auf den, jetzt nicht mehr. Das Zeug ist Schrott. Der letzte Mist. Sieht aus wie Pfefferminztee. Und Sie müssen das fünffache verbuffen, um irgendwas Signifikantes zu spüren. Zu sanft. Knallt nicht gut. Dafür fühle ich mich am Ende dumpf-matschig und bin sogar zu träge, um pissen zu gehen. Wahrscheinlich ist das Biocannabis. Von veganen Klimavetteln im Dachgeschoss gezogen und mit Fenchel gekreuzt. Was weiß ich. Lohnt sich nicht. Keine Chance gegen das Weedtaxi mit dem hochgepitchten Industriezeug, das ich fahrlässiger Mensch zuhause in der blütenstinkenden Schublade gelassen habe.

Vom letzten Abend bleibt in Wesseling nicht viel. Eine Pizza aus einer Pappschachtel. Der Industriechic, von dem ich Fotos mache, die ich wieder lösche, weil ich so viele Fotos von Wesseling nicht haben will. Der zugige Marktplatz. Sturmböen. Regenwolken. Tyskie von der Tanke. Schräge Blicke, wenn hier einer mit dem Bier auf einer Bank statt geimpft in der warmen Kneipe sitzt. Autos über Autos. Das ewige Rauschen.

Dann ist die Nacht vorbei. Und der Morgen. Und es ist Autobahn. Bielefeld. Hannover. Magdeburg. Und dann Berlin. Würde ich sagen, dass mir was in Erinnerung bleiben wird, müsste ich lügen.