Hurra, hurra, das Virus ist da (4)

Tag 4. Die Nervenzersäger aus dem Borgwürfel überschlagen sich mit E-Mails, Anrufen, Text- und Sprachnachrichten. Ihr Tonfall klingt ausnahmslos so, als wäre ich bereits tot und sie kondolierten meinem Geist. Es regnet Mitleid und Trauerklebesoße in ganzen Sturzbächen nach Berlin-Prenzlauer Berg. Oh Gott Mark! Oh Gott Mark! Mein Gott Mark! Eine Gruppe Emissäre bittet mich auf Zoom in einen Raum und singt tatsächlich. Sie singen! Alle vier gleichzeitig! Ein Horror. Wäre nicht auch das Kind hier in der Wohnung in Erwartung eines Ernährers aufhältig, würde ich jetzt schon den vorgezogenen Herrndorf machen. Nur wegen des Singens.

Auch die gammligen Reste der buckligen Verwandtschaft, von denen ich sonst zum Glück nie irgendwas mitbekomme, melden sich plötzlich, winken aus der Gruft, rufen an und heucheln Zuneigung. Oh Gott Mark. Oh Gott Mark. Mein Gott Mark. Ohne Ausrufezeichen. Eher seufzend. Stoisch. Resignierend. Alles hinter sich lassend. Die ganz Verwegenen rufen nicht an, sondern schicken selbstgeklöppelte kitschige Gifs mit Blumen, Clowns und Digitalgirlanden. Gute Besserung. Get! Well! Soon! Stimmung! Konfetti! Wollemose? Reinlassen? Nein! Was wollen die plötzlich? Erben vermutlich. Die Reste absaugen, die ich noch nicht versoffen, verhurt und in Osteuropa unter die Leute gebracht habe.

Ich kann Ihnen nur empfehlen: Wenn Sie Coronner haben, erzählen Sie es keinem. Mimen Sie Schnupfen. Magen-Darm. Beinbruch. Oder Aids. Weil die Leute sonst durchdrehen. In Reihe überschnappen. Weil die Kondolenzanrufe in Kombination mit Kondolenznachrichten kein Ende nehmen. Wie geht’s dir? Geht’s gut? Können wir was tun? Alles okay? Wie kommst du zurecht? Mein Gott Mark! Oh Gott Mark! Mann Mann Mark! Okay alles? Alles okay? Okay okay? Okaaaaaay? Mark kommst du klar? Nein. Ich komme nicht klar. Aber nur wegen euch. Wenn ich mit etwas nicht umgehen kann, dann ist es Mitleid. Fürsorge. Plakative Empathie. Trauerrituale. Sozialkitsch. Lasst mich in Ruhe abnippeln und bleibt weg wie sonst auch. Ich hab‘ Coronner und will das schweigend genießen, ihr Stricher. Ich brauche keine Girlanden. Keinen Gott. Kein Konfetti. Und auch keine Clowns.

(… und bitte, tausendmal bitte mit Zimt und Zucker obendrauf, kein Gesang mehr. Bitte.)

*

Der virale Handstreich hat begonnen. Husten habe ich bekommen. Recht krassen Husten. Keuchend bis ganz unten, ohne dabei etwas aus der sich inzwischen verklebt anfühlenden Lunge hervorholen zu können. Sehr widerwärtig. Ich klinge dazu wie einer der Krebskandidaten unten vom Späti mit ihren Lungentorpedos, die’s auch nicht mehr lange machen. Katarrh! Katarrh! Röööööhr! Das Atmen fällt schwerer als sonst. Hinzu kommt ein starker Durst, den ich nicht bekämpfen kann, weil er sich nicht bekämpfen lässt, egal wie viel ich trinke bleibt der Mund staubtrocken. Nachts ist das besonders eklig, weil das hilflose literweise Trinken dazu führt, ständig auf die Pissbox zu rennen, um festzustellen, dass der Mund trocken und der Durst schlicht stur dableibt. Unschön, diese Kombination. Doch. Definitiv unschön.

So ist der Tag mit Corinna. Und die Nacht. Und von vorne. Und von hinten. Ich habe Durst. Und verdammten Husten. Das Virus hat die erste Kneifzange auf den Tisch gelegt. Hals. Nase. Husten. Warten. Bellen. Röhren. Stieren. Die Zeit drängt. Kann sein, dass mir nicht so viel davon bleibt, meine Angelegenheiten zu sortieren. Keine Woche vermutlich. Tage. Es ist eine Frage von Tagen. Ich habe Coronner. Ich muss mich beeilen. Der Dezember findet gegebenenfalls schon ohne mich statt.

*

Mir fällt nicht viel ein, was es zu sortieren gäbe. Ein Testament vielleicht. Stimmt. Weil ich noch keines habe, muss ich ein Testament machen. Damit mein Kind mein lausiges Aktiendepot, meine vom Anleihemarkt zerschossene Lebensversicherung und meine rostige Reisschüssel von Auto erbt. Und nicht meine hässliche Mutter, die immer noch lebt und die vermutlich immer noch erbberechtigt ist, auch wenn die gar nicht mehr weiß, wie ich überhaupt aussehe.

Aber sowas stört die nicht. Die Krampe kommt bestimmt schnell aus ihrem Rattenloch gekrochen, wenn es von dem Sohn, den sie so hasst, was zu erben gibt. Ich habe es ja ihrer Lesart nach zu etwas gebracht, was sie nie wie alle anderen Eltern der Welt mit Stolz erfüllt hat, sondern mit giftgrünem Neid, schrankenlosem Hass, blindem Jähzorn und in der Summe noch größerer Abneigung als vorher, als ich noch der Versager war und sie mehr Hohn denn Hass für mich im Giftköcher hatte. Der Nichtskönner. Die Null. Der Kotzbrocken (ihr Lieblingswort). Die Peinlichkeit. Ihre Enttäuschung von Sohn. Kurwa. Fünfmal Kurwa. Ich schreib‘ die aus dem Erbe. Wie mach‘ ich das? Weiß ich nicht. Google. Aha. Handgeschrieben. Blatt Papier. Besser mehrmals. Dann bei den besten Kumpels der Welt deponieren. Auf dass der Gierlappen aus dem Rattenloch keinen Cent von mir sieht.

(Der Therapeut sagt an so einer Stelle immer, ich müsse irgendwann verzeihen. Einen Scheiß. Sage ich dann immer. Einen Scheiß verzeihe ich. Zumindest nicht so lange die Alte lebt. Diesen letzten Sieg, dass ich das kraftfressende narkoselose Rausoperieren des mütterlichen Geschwürs aus meinem Leben doch wieder rückgängig mache und sie mit ihrem triumphalen Grinsen wieder in mein Leben einziehen lasse, gebe ich ihr nicht.)

*

Mir schimmelt eine Salatgurke im Kühlschrank. Und eine der sechs Lidl-Pflaumen ist zu weich. Ich lese, dass sie Cannabis legalisieren wollen. Was für mich zu spät kommt. Und wieder klar war, dass sie es erst machen, wenn ich abtrete. Aus Bosheit. Als letzten Gruß. Im Dämmerlicht. Grauwolken. Halbgarer Regen, der wie ich auch nicht weiß was er will. Rhetorischer Eiswind aus ekligen Politikermündern weht aus dem Internet, deren Fressen ich wegwische. Eine letzte Wespe kommt zum offenen Fenster reingeflogen. Altersschwach. Die letzte ihrer Art. Ich töte sie ausnahmsweise nicht, weil mich ihre Anwesenheit seltsam tröstet. Der September isch over, Darling, krähe ich ihr dennoch wie aus Prinzip zu. Sonst nur Kindergequieke aus dem symptomlosen Kinderzimmer. Eine Glühbirne im Flur ist ausgefallen. Mein Bartrasierer stottert. Temperatur draußen 9 Grad. Tage. Wir reden hier von Tagen.


Hurra, hurra, das Virus ist da (3)