Diemitz / 2021

Der Punk zeltet. Aber der Punk wird alt. Der Punk kann nicht mehr auf dem harten Boden pennen. Der Punk braucht jetzt eine Luftmatratze. Ach, die Wurzeln. Steine. Überhaupt der zu harte Boden. Geht nicht mehr. Wo bleibt die Gehhilfe? Ich bin schon zu lange kein Punk mehr.

Auf dem Zeltplatz regieren die Spinnen. Riesige Dinger. Immer neue Versionen der Langbeine in meinem Zelt. Jede fahrlässige Öffnung für sich nutzend. Ich bin kein Arachnophober, aber wenn ich morgens aufwache und mich von der Decke des viel zu kleinen Zeltes direkt vor meinem Gesicht zehn Zentimeter spanngeweitete Spinnenbeine an einem dicken grau gemustert pulsierenden Körper angrienen, dann muss ich diese Spinnen töten. Weil das, was sie tun, respektlos ist.

Spinnen tötet man mit Flip Flops sehr gut. Patsch. Patsch. Patsch. Mein Zelt ein Massengrab.

Corona hat dazu geführt, dass der Borgwürfel mir mein privates Mobiltelefon zahlt. Als Gegenleistung für eine Dauerrufumleitung darauf. Was mit sich bringt, dass mich der Borgwürfel auch beim Zelten anruft. Mir die Zentrale irgendein Arschloch durchstellt. Ein Kunde was will. Der Kollege mit der Präsentation nicht zurecht kommt. Irgendwelche Zahlen nicht stimmen. Die Chefin Fragen hat. Noch im nachmittäglichen Saufen. Abends auch. Mark! Mark! Mark! Ich weiß du hast Urlaub, Urlaub, ich weiß, Mark! Urlaub! Nur eine Frage. Ganz kurz. Mark! Eine Frage nur. Dauert nicht lang. Ganz kurz nur.

Zu 19 Uhr, am Grill, in einer Hand die Grillzange und in der anderen das verdammte Telefon, weiß ich genau: Sie werden das nie wieder hergeben. Sie haben Corona dafür genutzt, alle Barrieren ins Private einzureißen. Flexible Arbeitsplätze. Hochmobilität. Viel weniger Büroflächen. Ganz superfresh „Workspacesharing“ genannt. Ständiges Stand-by. Endlich haben sie es geschafft. Ich bin jetzt immer für sie da. Greifbar. Abgreifbar. Es wird niemanden geben, der die Flut stoppen kann, wenn so ein Damm mal gebrochen ist. Corona ist der Vorwand, mit dem sie in mein Land gekommen sind. Und sagen Sie da was, sind Sie plötzlich rückständig. Weil hey, sharing is caring. Sharing klingt nämlich toll. So positiv. Jetzt lass‘ dich doch mal drauf ein, Mark. Sei keiner von den Miesepetern, die immer alles schwarz sehen. Sharing, Mark, sharing. Share doch dein Leben mit uns.

Da. Das Ding klingelt. Wieder einer. Mark! Mark! Ganz kurz nur! Ganz kurz! Mark! Ganz kurz! Es ist immer nur ganz kurz. Alles was sie wollen ist nur ganz kurz. Immer ist alles nur ganz kurz.

Was sie tun ist respektlos. Sie wissen, dass ich Urlaub habe und sie kommen trotzdem in mein Zelt. An den Grill. Ans Seeufer. Zu meiner Laufrunde in den Wald. Via Telefon. Und gegen diese Respektlosigkeit helfen keine Flip Flops.

Waldboden. Weichboden. Mecklenburger Blutboden. Deutschboden. Crosslauf. Baumstämme. Farne. Amon Amarth dröhnt mir durch die Kopfhörer. Keine Schmerzen.

Beim kurzen Pausieren auf der Laufrunde irgendwo im Wald kommen die Restmücken des Jahres 2021 auf mich zu. Vom Schweiß angetrieben wollen auch sie etwas von mir haben. Mein Blut. Und bekommen es auch. Bis mir endlich vor Stichen die Füße taub werden.

Wege. Holz. Holzwege. Waldwirtschaft. Die Chinesen kaufen das ganze Holz auf. Das ganze schöne deutsche Holz. Sagt einer. Etwas zu empört. Ich glaube, er baut gerade. Und hat damit automatisch ein Baustoffproblem. Was seine Empörung erklärt. Rohstoffe sind augenblicklich schwer zu haben und wenn, dann zu teuer für solch auf Kante genähte Finanzierungen. Am Lagerfeuer erzählt einer vom großen Crash, der kommen soll. Wie Lehman. Nur krasser. Aber wieder mit amerikanischen Immobilien als Auslöser. Wenn die Hypotheken und die Refinanzierungen abermals platzen. Alles würde dann den Bach runter gehen. Fiatmoney. Die Druckerpresse. Staatshaushalte. Aktien. Immobilien. Alle möglichen Altersvorsorgen. Gegen das Armageddon kauft er Kryptowährungen. Alles was er kriegen kann. Bitcoin. Dogecoin. Dingscoin. Bumscoin. Weil das die Zukunft sei. Alles würde nach dem Crash (bald, bald!) über Krypto laufen und er beabsichtigt, dabei zu sein.

Ich glaube ihm nicht. Apokalyptiker haben zwar Konjunktur, aber ich glaube ihnen allen nicht. Möglich, dass er der Verlierer sein wird, wenn der Kryptokram implodiert. Oder ich der Verlierer sein werde, wenn ich am kommenden Black Friday keinen Kryptokram habe. Keine Ahnung. Es ist nicht mehr als eine Wette auf Dinge, die keiner wissen kann. Ich werde es wie immer machen: Schauen und improvisieren. Durchbeißen. Ackern. Irgendwie an der Oberfläche bleiben. Ich wette sehr ungern.

Zum Zelten trage ich meine Boots & Braces. Die sind schlecht, sagte mir der Doc vor der Abfahrt. Schlecht für die Ferse. Übel für den Fersensporn. Soll ich nicht mehr tragen, sondern mir Schuhe mit weichen Sohlen kaufen. Aber ich trage das Schuhwerk von Boots & Braces seit zwanzig Jahren. Hänge daran. Sagte ich ihm. Irgendwann ist’s auch mal gut. Da gehen dann halt manche Sachen nicht mehr. Sagte er. Zu mir.

Mein Aphorismus zwischen Zeltstange und Spinnenbein: Der Punk wird alt und ist wirklich schon lange kein Punk mehr.

Für Zeltplätze gilt die gleiche Regel wie für Festivals: Merken Sie sich die Zeit, zu der die Klos gereinigt werden, und richten Sie Ihren Organismus danach aus. Kurz: Kacken Sie stets auf das gerade frisch gewienerte Klo.

Beim Lagerfeuer Männergespräche. Zwischen viel Schweigen. Politische Lage. Berliner Lebenswege. Wie immer der Malt zum Kellerbier.

Einer hat Nasenbluten. Für Männer eine klare Sache: Höhöhö, Erik hat seine Tage, höhöhö. Froh zu sein bedarf es stets wenig. Vor allem auf einem Zeltplatz. Humor muss schlicht sein, sonst isses keiner.

Das geht immer in dieser Weise zwischen Niveaulimbo und Hochgeistigkeit so lange hin und her, bis Frauen kommen. Wenn Frauen mit am Feuer sitzen, laufen die Gespräche sofort anders. Vorsichtiger. Allgemeiner. Unverfänglicher sowieso. Generell langweiliger. Als wäre man vor Publikum. Was man ja auch ist.

Die hier kamen aus dem Nichts. Von einem anderen Zeltdorf. Keiner konnte später sagen, wer die waren. Und wann die kamen. Sie waren plötzlich einfach da. Wir haben Feuer. Wir haben Musik. Wir haben Essen. Alkohol. Was zu buffen. Sind uns selbst genug. Da fehlen nur noch welche, die sich dazusetzen.

Was ich auch nicht weiß ist, was diese Frauen erwartet haben, die sich mit einer Selbstverständlichkeit, die nur Frauen bringen können ohne dafür gegrillt zu werden, mitten in diese Männerrunde gesetzt haben. Dass sich jemand von uns für sie produziert vermutlich. Oder ein Kunststückchen macht. Sie unterhalten würde. Das Kasperchen mimt. Tat aber keiner. Irgendwann gingen sie. Enttäuscht vielleicht. Keine Ahnung. Niemand hat das Begehr anschließend aufgearbeitet. Sie kamen, haben unser Zeug gesoffen, unser Gras gekifft und gingen wieder.

Einig sind sich alle Männer, auf die in Berlin eine feste Partnerin wartet, dass das Zelten einen völlig anderen Charakter bekommen hätte, hätten sie ihre Frauen mitgebracht. Gebackene Blechkuchen. Mehrere hochkreative Salate mit mindestens einmal Bulgur. Oder Taboulé. Beschwerden über Insekten. Die Spinnen. Beschwerden über die riesigen fetten schwarzen Schnecken. Beschwerden über die Klos. Die Duschen. Den Konsum der Dinge. Jetzt trink‘ doch mal nicht so viel. Denk‘ an morgen, Schatz. Schatz. Schatz! Keine Lynchburg Lemonade zum Frühstück. Sondern komisch bemusterte Servietten auf der Bierzeltgarnitur, von Weihnachten, 2019, die endlich mal weg müssen. Pünktlicher Abwasch. Zu viel Ordnung. Keine Eskalation. Alkohol in unvernünftig vernünftigen Dosen. Keine Gespräche über die Konsistenz des Stuhlgangs. Sondern Gespräche über vernünftige Dinge. Beruf. Vorsorge. Die verdammten Kinder. Ein Regime wie zuhause. Niemand braucht das. Beim Zelten gleich gar nicht.

Fred sitzt mit am Feuer. Ich nenne ihn Fred, auch wenn er nicht so heißt. Fred ist der unkomplizierteste Mensch der Welt. Mal da. Mal nicht. Ist drahtig. Gut trainiert. Und trotzdem weich. Und sein Fünftagebart kratzt angenehm beim Küssen. Wenn Fred da ist, küssen wir uns manchmal. Wenn nicht, dann nicht. On. Off. Ohne Stress. Keine Verpflichtungen. Fred ist der unkomplizierteste Mensch der Welt. Die meisten Männer, die ich kenne, sind unkompliziert. Stresser sind selten geworden, seit die Zahl 30 nur noch ein vergilbender Gedanke im geistigen Fotoalbum ist, und ich begrüße das. Es ist die logische Konsequenz der Entscheidung, alle Stresser stets schnell auszusortieren: Es sind dann keine mehr da. Ich mag keine Stresser mehr in meinem Umfeld haben.

Ich bekomme einen Gruß ausgerichtet. Von Charlotte. Sagt einer, der immer alle kennt. Und alles weiß. Wenn du Mark siehst, sag‘ mal ’nen Gruß. Charlotte. Huh. Mit Charlotte hat es mal einen ganzen Abend lang geknistert. Was selten geworden ist. Ein Umkreisen. Ein Spiel. Funkenfeuerwerk. Eine Ameisenkolonie im Bauch. Ich mag das sehr. Manchmal ist das Ungewisse, der Schwebezustand, in dem es knistert, besser als der Sex, der dann doch so oft enttäuscht und nicht das hält, was der Flirt so leichtsinnig in die Welt gefunkensprüht hat. Charlotte. Ihre Augen. Ihr Lachen. Ihre perfekten Zähne. Ich habe mich in einem Ausmaß verliebt, wie ich mich immer verliebe, wenn ich mich verliebe. Immer gleich vollkommen. Totale Schubkraft. Ohne Zwischentöne. Drunter mache ich es nicht. Meistens lieber gar nicht als halbgar. Aber selbst bei Vollkommenheit wähle ich lieber die Flucht als die Gefahr der Fessel. Oder der Verantwortung. Das ist bei mir so.

Heh. Mark. Charlotte hat mir gesagt, sie hätte dir an dem Abend sofort einen geblasen. Noch auf dem Klo vom Kreuzberger Ranzladen, in dem wir waren. Du hättest es nur wollen müssen, dann hätte sie es gemacht. Hat sie gesagt. Sagt er grinsend. Dieses Arschloch. Scheuert mir die giftige Information quasi ins Gesicht. Der, der nicht weiß, dass mir dieser besondere Abend bis gerade eben einen magischen Flair behielt, den ich nun knapp zwei Jahre mit mir getragen habe. Der das natürlich nicht wissen kann, weil er nicht in meinem Kopf sitzt und meine Endorphine zählt, die mir Charlotte allein beim Gedanken an sie in den Kreislauf pumpen konnte (immer noch kann, fool, bis gerade eben immer noch konnte). Plopp Plopp. Abspann im Kopfkino. Blasen. Klo. Punkschuppen. Charlotte. Auf Knien womöglich. In der Pisse. Und ich höre alle meine romantischen Illusionen, von denen ich selber weiß, dass sie ganz tief drin nur dämliche Illusionen sind, einzeln Plopp machen.

Plopp.

Plopp Plopp Plopp.

Seifenblasen. Immer Seifenblasen. Und einer kommt ja immer mit dem Finger …

Ich denke darüber nach, wo ich hier bin. Rheinsberg ist nicht weit weg. Dort bin ich vor vielen Jahren auf einer Faschoparty gelandet. Kumpel von nem Kumpel und dessen Kumpels. Gute Miene. Fieses Spiel. Landserlieder. Weinerliche Deutsche. Suffschwul natürlich. Hing einer an mir. Das habe ich öfter. Kryptoschwule, die tagsüber gerne Homos klatschen täten, ihnen aber nach vier, fünf, sechs Bier in der Arschfalte umhertatschen, mit der Notgeilheit an ihren Mundwinkeln auch mal gerne den Schwanz eines anderen in die Hand nehmen würden. Aber nur wenn es keiner merkt. Arme traurige Zwerge. Die mein Zerrbild der Gegend lange prägten.

Das ist es, was von Rheinsberg übrig blieb. Ich weiß nicht mehr viel von dem Abend, weil ich mich vollkommen betrunken habe, um so viel wie möglich auszublenden. Was ich noch weiß ist, wie sie dort „Hier kommt Alex“ von den Toten Hosen mit eigenem Text intoniert haben: Hier kommt Adolf. Gashahn auf. Für seine Horrorshow. Es hat das Lied für mich seitdem versaut. Dass Rheinsberg so natürlich nicht überall ist, weiß ich auch. Aber dennoch ging ich nie wieder dort hin. Fortan verseuchter Boden.

Ein anderer Ort von dieser Sorte war der Turm. In Oranienburg. Ein Schwimmbad. Unbetretbar noch Anfang der Nullerjahre. Voller Faschos. Den Turm hatten die damals voll in der Hand. „Was?“, hieß es in Berlin-Neukölln, „Ihr wollt in den Turm? Nach Oranienburg? In das Faschonest?“ Jetzt ist der Turm wie der Rest von Deutschland: Bunt. Ich war erst kürzlich wieder da. Mit dem Kind. Der alte fürchterliche Turm ist jetzt ein normales Spaßbad. Wie Sie aussehen und woher Sie kommen interessiert keine Sau mehr. Nur wo sind die ganzen Faschos von früher hin? Alt und voller Bierflecken vor dem Fernseher auf der Couch verklebt? Im Knast? Oder totgesoffen? Ich meine hey, nicht dass ich die vermisse, aber es fällt halt auf. Die sind nicht mehr da. Selbst hier in Diemitz im Niemandsland zwischen Branden- und Mecklenburg sehe ich keine mehr. Die alten Ekelglatzen von früher sind ausgestorben. In den Stadtbildern nicht mehr vorhanden. Ein Schimäre womöglich nur noch. Ich weiß es nicht.

Der Säuferzyklus auf so einem Zeltplatz läuft immer gleich:

Der erste Abend ist pure Euphorie. Alle trinken alles. Bier. Wein. Malt. Rum. Wodka. Das Ergebnis ist der absolute Rausch. Alles geht. Und dreht sich. Alle geil. Alle rattig.

Darauf folgt die zwangsläufige Rekonvaleszenz. Sie trinken am zweiten Abend missmutig fünf, sechs, gerne auch sieben Bier, die nicht schmecken und von denen Sie nicht besoffen werden, einfach um die Kopfschmerzen und die Übelkeit weg zu bekommen. Der zweite Abend ist immer schlimm. Keiner hat Bock. Euphorie können Sie mit dem Mikroskop suchen und würden nix finden. Und die Gespräche sind auch öde. War der erste Abend in der Eskalation heftiger, kann die Rekonvalenszenz auch den dritten Abend umfassen. Untragbares Essen (Nettobratwürste, üble Tankstellennackensteaks, Pringles Sour Cream and Onion) wird wichtiger als das Trinken nervengifthaltiger Flüssigkeiten.

Dumm, wenn Sie wie Fred erst am zweiten Tag anreisen. Überall Ernüchterung und Sie wollen Eskalation.

Der letzte Abend schäumt wieder über. Einfach weil es der letzte Abend ist und Sie so jung nicht mehr zusammenkommen werden. Es folgt alles vom ersten Abend: Unvernunft. Euphorie. Rausch. Der letzte Abend. Der nochmal gut werden muss, um den Rahmen zu haben. Scheiß auf die Restalkoholfahrt mit dem Auto zurück nach Berlin morgen. Egal. Wie alles. Am letzten Abend ist alles egal.

Tick. Tack.

So verstreichen die Tage wie mir die Mücken die Beine zerstechen. Morgen früh Aufbruch. Der letzte Kasten Bier muss noch weg. Die Boombox spielt eine Band mit dem Namen Trümmer. Einen Song namens Zwischen Hamburg und Berlin, den hier niemand außer mir kennt, der aber alles wiedergibt, was ist.

Wie immer. Alles ist wie immer. Wie jedes Mal. Wie jedes Jahr. Der letzte Abend ist immer magisch. Abendrot. Schleierwolken. Wenig Regen. 2021 kommt aus der Kurve in den Zieleinlauf. Sturm soll es geben.