Boomboxarschgeburten

Ich weiß nicht, ob es an den Mondphasen liegt, an der Sternenkonstellation oder am Menstruationszyklus meiner Fleischwarenfachverkäuferin, aber es gibt Nächte, an denen eiern bis zu drei merkbefreite Arschgeburten mit voll aufgedrehten Boomboxen in der Hand oder auf den Rücken geschnallt durch meine Straße, die zumindest auf dem Stadtplan betrachtet vergleichsweise ruhig liegt. Ruhig war. Sein sollte. Nicht mehr ist. Keine Ahnung wo die hinwollen. Der Knaack-Club auf der Greifswalder ist schon vor Jahren von neu zugezogenen grabstillesuchenden Neubautenbauern erfolgreich in die Wüste gentrifiziert worden und die ganzen schlechten ironischen Dreckscocktailbars, die sich für Bukowskis Geschenk an den BWL-Nachwuchs von der Mercedes-Bank halten, haben sich alle drüben um den Helmholtzplatz konzentriert und nerven dort zu meiner Freude die filzigen Pberg-Ingwer-Chia-Mate-Mütter mit ihrer verkrachten aufgesetzten Cocktailkünstlershow und nicht mich.

BOOM BOOM BOOM!

(Wieder einer)

BOOM BOOM BOOM!

(Ficker)

Manchmal bleibt einer von den bollernden Boomboxstrichern stehen, fläzt sich auf die Sitzbank, die der Szenedeppenfriseur gegenüber vor seinen Dämlichen-Friseurladennamen-Friseurladen gestellt hat, und lässt in aller Ruhe seine minderwertige Musik durch die Jugendstilschluchten meines Blocks dröhnen. Zehn Minuten. Fünfzehn. Zwanzig. Quietsch Quietsch gimme Trapscheiße. Dann läuft er weiter. Tour de Honk. Quer durch die Hood. Damit jeder was davon hat.

BOOM BOOM BOOM!

(Missgeburt)

Das ist Berlin und seine den öffentlichen Raum verseuchenden Verstrahlten. Die kein Maß kennen. Immer möglichst offensiv übergreifen. Es ist ein direkter Zusammenhang. Gehört zusammen. Und war schon immer so. Das kaufen Sie ein, wenn Sie hierhin zuziehen und damit müssen Sie klarkommen, wenn Sie hier aufwachsen. Die Arschgeburten waren immer schon da, wenn auch bisher nie so massiv akustikverstärkt wie momentan, seit Boomboxen und Smartphones nix mehr kosten und jeder Soziopath seinen musikalischen Akustikmüll in die Ohren anderer Leute blasen kann. Keine U-Bahn-Fahrt mehr, bei der nicht irgendwer entweder sich selber oder seinem Kind, aber auf jedem Fall dem ganzen U-Bahn-Wagen irgendeinen blechernen Scheiß aus dem Telefon heraus vorspielt. Kindergangsterrap. Kirmestechno. Bollywood Pop. Nasheedgejaule. Oder beschissene Zeichentrickfilme in einem höhenverzerrten Lautstärkeninferno, um seine schon mit drei Jahren degenerierten Kinderwagenkinder ruhig zu stellen. Ich fahre U-Bahn seit meiner Jugend nur mit Musik im Kopfhörer. Das machen die meisten Berliner so. Wer nix in den Ohren hat, weiß es nicht besser. Ist gerade zugezogen. Oder Tourist. Oder dumm. Anders als mit zugestopften Ohren halten Sie Berlins öffentlichen Raum gar nicht aus. Weil irgendwer immer irgendeinen Scheiß abspielt, oder rumbrüllt, als kleiner Freisler überschnappend über irgendeine Regierung lamentiert oder in der touristischen Schnepfengruppe theatralisch in der Gegend umherkreischt: Ouuuuuuuh! Loooooook! Awesooooome! Someone puked in front of the ticket machine! Ouuuhh! My! Fucking! Goodness!

Ich bin aber sehr glücklich, wenn ich in Berlins prekärem öffentlichen Nahverkehr fahre, denn mit Kopfhörern kann ich die ganzen lärmenden Arschgeburten einfach ausblenden. Da steht der Krakeeler dann mit Kackpulle in der Hand und einem raushängenden behaarten Ei aus der Hose tumb vor mir und will mir vermutlich erzählen, wie ihn Angela Merkel persönlich um die Stütze geprellt hat und ich höre leider nichts, nixomat, schaue auf seinen speioffenen Mockermund mit den aus dem entzündeten Zahnfleisch hervorlugenden schwarzen Stümpfen und den gelblichen Speichelfäden im Mundwinkel und höre nichts. Nur meine Musik. Oder er hier. Sitzt mit seinem Smartphone neben mir, dessen geplärrte Aufrufe zum Dschihad ich in den Pausen zwischen meinen Songs kurz aufjaulen höre, wischt zufrieden auf seiner smarten Hirnprotese herum und alle um ihn herum schauen angekotzt, weil er natürlich stört, aber hier sagt keiner was, weil sie in Berlin nie jemanden mit Worten dazu kriegen, dass er irgendwas Störendes sein lässt, sondern Sie ernten immer nur Gebrülle, immer gleich Contra, niemand wird hier ein besserer Mensch, nur weil Sie ihm sagen, dass er irgendetwas sein lassen soll. Berlin ist ein Assi, Berlin ist der besoffene Onkel auf der Familienfeier mit den Fettflecken auf dem Hemd, der an fremden Ärschen rumgrabbelt, Berlin hat keinen Stil, kein Auftreten und niemals Niveau und das war schon so, als ich auf die Welt kam.

Aber ich komme zurecht. Musik im Ohr ist der Ausweg. Das Mittel zur Vermeidung der Aufdensackgeher. Das lernen Sie auch noch. Schwöre. Großes Indianer Amerikanischeureinwohnermitfederschmuckaufdemkopfehrenwort.

Nur nachts kann ich die Arschgeburten nicht ausblenden. Kann sie nicht mit Mucke überspielen. Sie aus meiner Wahrnehmung verdrängen. Nachts kriegen sie mich. Nachts wandern sie durch meine Straße und spielen ihre Musik ab. BOOM BOOM BOOM! Dann brüllen beherzte Nachbarn aus den Fenstern. Fafatzda! Arschloch! Eh! Mach det Scheiß Ding aus! Einer schmiss mal mit Eiern. Ich weiß das, weil ich da gerade auf dem Balkon gekifft habe und ein Ei knapp unter der Balustrade einschlug, weil der Eierwerfer blöd gezielt hat. Aber das alles bringt nix, weil die Typen dann kurz weiterziehen, um den ganzen Block, die ganze Straße, den ganzen Bezirk zu wecken, um dann nochmal eine Runde zurück zu denen zu drehen, die sich beschwert haben. Die gerade wieder eingeschlafen sind. Damit die nochmal wach werden. Und schon morgen in der Nacht kommt der Nächste. Oder kommen die nächsten zwei. Oder drei. Spätsommer in Berlin. Die ganze Stadt eine Boombox. Haha. Trollolo. Eine Arschgeburtenparade. Sie mögen sowas nicht? Bleiben Sie in Gießen. Bamberg. Bad Bevensen. Denn Berlin hat aufgerüstet. Berlin hat jetzt Boomboxen. Eins zwei drei viele.

Manchmal kommt die Polizei. Weil ein Nachbar dann doch den Polizeiruf als Option zieht. Irgendwann um eins. Oder zwei. Drei auch. Die Bullen kommen dann mit Lalü. Für die, die von der Boombox noch nicht wach geworden sind. Eine halbe Stunde später kommen sie, wenn der Boomboxenaffe schon längst drüben in Friedrichshain ist. Personalmangel. Desinteresse. Berliner Wurstigkeit. Bringt dann halt auch nix. Niemandem. Nur Papierkram. Ärger. Nerverei. Personenbeschreibung. Einstellung des Verfahrens wegen Nichtermittlung. Oder mangels öffentlichem Interesse. Das ist Berlin.

Bi Ba Bonustrack, weil es gerade so schön passt: Ich kenne einen Polizisten Bullen, der mir beim Bier gerne erzählt, wie sie in langweiligen Nächten mit Vorliebe und Blaulicht durch den Kollwitzkiez fahren. Husemannstraße. Wörther. Belforter. Oder Knaack. Sie nennen das „Schwaben wecken.“

Dabei wohnen am Kollwitzplatz kaum noch Schwaben, Schwaben war Nullerjahre, jetzt wohnen da hauptsächlich Russen, aber das ist auch schon wieder egal. „Russen wecken“ klingt halt auch nicht halb so witzig.

Meine erste richtige eigene Wohnung, die man Wohnung nennen konnte ohne zu lügen, lag in einem heruntergekommenen Viertel an einer vierspurigen Hauptverkehrsachse voller Dönerbutzen, Kneipen, Teestuben, Lottoläden. Sechsmal die Nacht Sirenen. Besoffene Brüller folgten besoffenen Brüllern folgten noch mehr besoffenen Brüllern. Zweimal die Nacht Hochzeitsgehupe. Oder einfach so Gehupe. Möööök Möööök Mööök. MÖÖÖÖÖÖÖÖK! Das habe ich alles irgendwann nicht mehr gehört. Bin nicht mal mehr davon aufgewacht. Trotz offener Balkontüre. Der Körper ist ein Wunderwerk. Er wird auch die Arschgeburten mit den Boomboxen verdauen. Irgendwann. Oder ich haue einem von denen aufs Maul und stecke ihm seine Bassbox in den Arsch. Und zünde die dann an. Weil sie Lärmnazis sind. Missgeburten. Nuttenbengel. Arschges …

… ichter …

… mmmh …

Reflektier‘ dich doch mal selber.

Fool.

Nee, echt, mach‘ mal.

Flashback.

2004. 2005. 2006.

Dingeling.

Meine Klingel.

Schellte.

Mehrmals wohl.

Oftmals.

Hat aber keiner gehört.

Von den Assipennern in meiner Bude.

Weil die Mucke zu krass war.

Irgendwas Mitternacht. Kurz danach. Kurz davor. Weiß nicht mehr.

Dann Bollern. Heftig. Fußtritte gegen die Tür. Das habe ich gehört. Und aufgemacht. Standen die Bullen davor. An manchen Nächten zum dritten Mal. Die Bar, die wir damals unten hatten, hatte sich beschwert. Leute könnten sich nicht unterhalten. Wegen meiner Musik. Der Fensterverkaufitaliener mit seinen Minipizzen, heute längst in die ewigen Jagdgründe gentrifiziert, hatte schon vor Stunden die Bullen gerufen. Weil meine Musik von oben lauter als seine miese Italodudelmusik gewesen sei und er sie deswegen ausstellte. Gäste, die gingen. Oder gar nicht kamen erst. Ausbleibender Umsatz. Wegen der Arschgeburt vom dritten Stock (mir, icke, ich!), dessen Kampfmusik man bis runter zur Danziger Ecke Schönhauser gehört haben musste.

Flashback. Lychener. Prenzlauer Berg. Post-Millennium. Icke. Gekommen, um zu bleiben. Der Lauteste von allen. Mit Standboxen aus der Hölle. Nein. Ich würde es nicht anders machen als die Boomboxenpenner da unten. Nullamente. Ich habe es ja auch nicht anders gemacht. War ja auch nicht besser. Oder gar leiser. Verträglicher. Nichts von allem war ich. Nur jünger. Ohne Befugnis, mich jetzt zu beschweren, schon gar nicht über die bassboomboxwummernde Jugend, die so viel nachzuholen hat, deren Clubs immer noch dicht sind, oder sie nur gegen den süßen kleinen knuddeligen (hui!) Pieks reinlassen, eine Jugend, die sie jede Nacht mit den aufgehetzt aus Wannen springenden Coronacops aus dem Mauerpark fegen, oder dem Bürgerpark, dem Volkspark Friedrichshain, oder gleich vom Brunnen des Grauens am Alex, weil es zu viele sind, denen die Bude zu eng wird, zu viele, die feiern wollen, zu viele, die da was nachzuholen haben, zu viele, die jetzt zu lange schon still waren, Ausgangssperre, Kontaktbeschränkung, Sperrstunde, Alkoholverbot, Anscheißernachbarn, zwei Haushalte am Arsch, lasst sie feiern.

BOOM BOOM BOOM!


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