Die irre Schabracke von der Havelchaussee

When someone hurts me I want revenge, I want them in pain, I want them dead.

Bodycount


Es gibt einzelne Dinge des Konzepts der Scharia, denen ich phasenweise etwas abgewinnen kann. Dem Prinzip der Vergeltung zum Beispiel. Oder religiös gesprochen: Auge um Auge. Das haben Sie ja so auch in den westlich-christlichen Glaubenssätzen verankert, auch wenn sie das in diesem Zeitalter, in dem Menschen früh schon beigebracht wird, immer alles an Zumutungen anderer Menschen hinzunehmen, akkurat unter die Steppdecke des ewigen Vergessens gekehrt haben. Dabei ist es ganz einfach: Actio führt zu Reactio. Auf vergleichbarem Niveau. B folgt A. Greift Sie einer an, wehren Sie sich. Haut Ihnen einer auf die Fresse, hauen Sie ihm also auf die Fresse. Außer Sie sind ein Lauch und nehmen alles, was Ihnen angetan wird, devot hin. Gibt’s auch. Wär‘ nur nicht meins. Ich bin da anders. Fährt mir einer der Berliner Fahrradnazis mein Kind auf dem Bürgersteig über den Haufen, spanne ich ihn über einen Bock und stecke ihm die Einzelteile seines pedalbetriebenen Mobbinggeräts auf Rädern ganz tief in den Darm. Und den lächerlichen neonleuchtenden Helm hinterher. Damit er’s lernt.

Nein. Mache ich natürlich nicht.

Ich werfe ihn nur von der nächsten Brücke.

Nein. Mache ich natürlich auch nicht. Es wäre ja nicht zivilisiert. Sondern roh. Archaisch. Ungehobelt. Unwestlich. Und gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt es auch. Deswegen mach ich’s ja auch nicht, sondern bin wie ein guter Schlumpf: Ich nehme das Meiste der übergriffigen Scheiße, die Berlin uns allen laufend vor die Füße rotzt, stoisch hin. Sie können mir hackepubbesoffen gegen die Haustüre reihern, aperolspritzblasenschwach vor meinen Briefkasten puschen, Sie können mit oder gerne bitte ohne raushängende Eier wie ein obszöner Operettenherrscher auf meiner Kreuzung stehen und die Passanten beblöken oder mit dem nackten Arsch das blöde Parklet auf der Schönhauser Allee bekoten. Das interessiert Berlin nicht und mich auch nicht. Anything goes. Die meisten Aus- oder besser Überflüsse der verspulten Assiparade, die es so nur in Berlin gibt, lass‘ ich laufen, ziehe mir das Geschehen teilnahms- plus illusionslos rein, verarbeite den Grind samt der Grindmenschen dieser vermodernden Stadt maximal zu Blogfutter für Gestörte, die solch Scheiß interessiert und das war’s. Aufregen dürfen sich gerne andere und dann an einem Herzanfall krepieren, während Berlins Verspulte den öffentlichen Raum immer noch vergüllen werden, wenn der, der sich darüber aufgeregt hat, längst als Asche in einer billigen Urne auf irgendeinem anonymen Regalbrett einer Friedhofsdauerausstellung steht, die keiner besucht.

Manchmal aber öffnen sich so kleine Fenster und dann funktioniert Vergeltung. Klappt Zurückstressen. Dann kommen so kleine Gelegenheiten des Alltags herbeigeflogen, in denen Sie einfach mal jemandem sein Scheißding zurückgeben, die Scheißaktion mit exakt der gleichen Scheißreaktion vergelten können. Eine kleine Rache. Genugtuung. Payback. Befriedigendes Auge um Auge. So eine kleine Jetzt-fick-ich-mal-dich-statt-immer-nur-du-mich-Geste.

Die Havelchaussee zwischen Ruhleben und Wannsee ist irgendwas um die zehn Kilometer lang, ein guter Teil davon ist kerzengerade und zur Freude der biestigen Karottenköpfe aus dem Berliner Senat durchgehend mit Tempo 30 bewehrt. Im Grunewald. Keine Schulen. Keine Altenheime. Keine Wohngebiete. Nur Wald. Zehn Kilometer lang. Geradeaus. Tempo 30. Ein Sadistenstück aus der Verkehrsverwaltung ohne verkehrsmäßigen Sinn, sondern ein Beispiel für den unbedingten Willen der Stadt, Autofahrern auf den Straßen, für die das Land Berlin und nicht der Bund zuständig ist, das Autofahren so unangenehm wie möglich zu machen. Aus ideologischen Gründen. Weil sie wollen, dass ich diese zehn Kilometer mit dem Fahrrad fahre und achselnässig durchgeschwitzt bei meinem Kundentermin in Wannsee ankomme. Oder sie mich in ihrer mülligen, vollgekotzten S-Bahn durch die Stadt gurken sehen wollen, die dauernd wegen Gewitter, Fönböe oder abnehmendem Sichelmond ausfällt oder ich sogar in einen ihrer eklig vollgestopften menschenstinkenden Bussen steigen möge, weil der Kunde in einem der vielen sinnlosen und nur mit Bussen erschlossenen Gebiete der nicht mehr selbstständigen politischen Einheit Westberlin auf mich wartet. Gatow. Staaken. Oder Düppel, meine Güte, Düppel.

Natürlich ist das Schikane. Zehn Kilometer Tempo 30 auf so einer Strecke. Wie Seestraße oben Wedding. Dort haben sie von Prenzlauer Berg Richtung Autobahn eine rote Welle programmiert, die in ihrem Grad der Schikanierung ihresgleichen sucht und Sie in den Wahnsinn treibt, weil es kein System gibt, nachdem Sie es schaffen, auch nur an einer der fünftausend Ampeln nicht zu stehen. Und ich weiß das. Ich habe alles durch. 70 km/h bis Osloer, dann 30 bis Müllerstraße, 40 km/h ab Bösebrücke, 50 ab Koloniestraße und 65 ab Markstraße, dann Müllerstraße auf 30 runter, keine Chance. Sie stehen. Es gibt kein System. Oder aber zahllose vorsätzlich programmierte Systeme an roter Welle, von denen jeden Tag ein neues ausgelost wird, so dass Sie gar keine Chance haben, das Idiotenampelsystem zu überlisten, sondern dort stehen wo Sie stehen und schmoren sollen: An der Ampel. Damit Sie anfangen, Fahrrad zu fahren.

An die 30 km/h auf der Havelchaussee hält sich natürlich keine Sau. Das können Sie auch gar nicht. Die Willenskraft, im zweiten Gang in so einem Tempo schnurgeradeaus zu zuckeln, kann niemand aufbringen, außer vielleicht tibetanische Mönche. Eine halbmumifizierte Oma. Oder eine Prenzlmutter im fünfzehnten Chakrengrad nach Sri Chinmoy. Aber die fahren kein Auto.

Stattdessen passiert folgendes: Es findet sich ein Idiot, der mit 40 bis 50 km/h voraus fährt und eine Kolonne an drängelnden Autos hinter sich her zieht, deren Fahrer fast immer froh sind, dass sie nicht vorne sein müssen, weil wenn Berlin geschwindigkeitsblitzt, machen sie es hier und erwischt es nur den, der vorne fährt, die dahinter bremsen schnell ab und freuen sich einen Keks.

Divide. Et impera. Und bestrafe einen, erziehe viele.

Heute bin ich dieser Idiot. Seit zehn Minuten gurke ich als Frontschwein mit 40 km/h die Havelchaussee runter. 40. Mehr nicht. Weil ich weiß, dass Berlin aus Verwaltungsüberlastungsgründen Überschreitungen bis zu zehn km/h selten verfolgt, sondern fallenlässt, weil sie zu wenig Personal für die Bußgeldbescheide haben und sie sich in den Ämtern auf die kapitalen Ausreißer jenseits der 10 km/h Überschreitung konzentrieren. Jene die sich lohnen. Die für das Fahrverbot. Dem saftigen Betrag. Der MPU. 10 km/h lohnen nicht.

Hinter mir fährt eine Schabracke. Eine Irre. Eine irre Schabracke. Ihr bin ich mit meinen 40 offenbar zu langsam. Sie gestikuliert. Fährt Schlangenlinien. Kommt dicht ran. Lässt sich zurückfallen. Kommt wieder dicht ran. Regt sich auf. Lässt sich sogar zu einer Lichthupe gehen.

Sie stresst mich. Penetriert mich bis fast in den Kofferraum. Das ist auch Sinn der Übung. Ich soll schneller fahren. Damit es schneller geht.

Mache ich natürlich nicht. Wenn Sie mich stressen, mache ich nämlich das Gegenteil. Wirklich immer. Ganz automatisch. Selbst wenn es unvernünftig ist. Einfach aus Bock. Damit Sie sehen, dass ich mich von Ihnen nicht stressen lasse. Ich würde sogar mülltrennen, gäbe es meine Nachbarschaft nicht, die sich das Mülltrennen zum absolutistischen Fetisch gemacht hat (so deutsch) und Zettel schreibt und fahndet und Leute anspricht, wer denn wieder die Batterien in die Biotonne geworfen hat (ich, ich war das, ich bin das immer).

Ich fahre also, seit die Schabracke hinter mir so ein hypertonisches Feuerwerk abzieht und mich nervt, nicht mehr 40, sondern 30. Wie vorgeschrieben. Mit Absicht. Einfach nur weil mir die Alte hinter mir so auf den Sack geht. Wonach sie noch mehr ausrastet. Das Fenster geht runter. Die Faust kommt raus. Fickfinger habe ich nicht gesehen, wäre aber naheliegend. Dann überholt sie schließlich. Und hupt dabei. Lange. Mööööööööööööök. Vor mir dann nochmal, um es zu unterstreichen. Mööööööööööööök.

Und das ist gut.

Alles ist gut.

Denn jetzt bin ich hinter ihr.

Was ich aufgreife.

Denn ich bleibe dran. Ganz entspannt halte ich die Distanz. Sie fährt schneller. Ich auch. Hoffend, dass sie mein Irrenhausgrinsen sieht. Denn sie ist jetzt da wo sie sein soll. Vor mir. 40, 45, 50. Fahr schneller. Elende Wannseevettel. Vendetta, du Schabracke. Unangenehm, nicht? Doch. 50, 55, knapp 60 fährt sie jetzt. Die Torte ist offenbar gestresst.

BLITZ!!!

Rotes Licht. Was macht es? Es leuchtet rot. Und fotografiert. Icke Eisen. Und wie. Runter auf 35. Nix. Kein Blitz. Nur die Schabracke ist drauf. 60 bei 30. Gutes Ergebnis. Ich mag das. Karma. Vendetta. Scharia. Augeaugeauge. Zahnfleisch. Was weiß ich. Jedenfalls: Fuck you.

Nach dem Blitz fährt sie nur noch 30. Hat auch gebremst und fährt nun langsam. Als ob das jetzt noch was brächte. Jetzt könnte sie auch durchheizen. Ruf. Ruiniert. Ungeniert. Und so. Denn das Foto ist gemacht. Und sie ist drauf. Alhamdulillah.