Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Honk (45)

Es grätscht ein Honk in den Rewe. In die Kassenschlange. Direkt vor mir.

„Hallo, kann ich das mal kurz…?“, fragt er die Kassenfrau. Nicht mal mich, den sein Begehr betrifft.

Meine Leitung ist heute lang, denn ich träume mal wieder vor mich hin. Ich bin ein ganz großer Kassenschlangenträumer. Schneide selten was mit. Umwelt ausgeblendet. Sepia. Gedämmt. Gnädig unscharf. Introvertiertenmove. Tunnelglück. Huh? Was war noch gleich? Und wer ist das da? Und was will der?

Er hält ein Paket in der Hand. Will das aufgeben. Weil Rewe jetzt offenbar auch Pakete annimmt.

Bevor ich ihn großzügig vorlassen kann, weil das Nichtvorlassen von Schlangengrätschern aus der Überholspur gesellschaftlich verpönt ist, sagt die Kassenfrau: „Stellen Sie sich in die Schlange“ und deutet auf die ausladende Anzahl Menschen hinter mir, weil sie heute wieder nur eine Kasse offen haben und ganz Prenzlauer Berg entweder aus Angst vor Gewitter, Berlin-Blockade, dem kommenden langen Wochenende, Karl Lauterbach oder vor einem weiteren Coronalockdown einkauft als gäbe es kein Morgen mehr.

„Aber ich habe es eilig“, gibt er nicht auf und spricht wieder nicht zu mir, sondern weiter mit der Kassenfrau, was sein Pech ist, denn ich hätte ihn vorgelassen. Immer noch.

„Jeder hat eilig.“ Sie wieder. Polin. Höre ich sofort. Wegen des weggelassenen „es“ und der wörterlangziehenden Zuckervokale, die Musik für mich sind. Ich mag sie sofort. Der Paketmann sollte lieber nicht weiter insistieren. Polnische Frauen können resolut sein, ich weiß das, ich bin mit ihnen aufgewachsen. Unterschätzen Sie mir die polnischen Frauen nicht.

Natürlich ist der Typ dreist. Ich weiß es doch. Oft sind solche Typen nur zu fein oder zu faul für die Kassenschlange und schützen Eile vor, um nicht warten zu müssen. Und wenn man jetzt tatsächlich auch an des Rewes Kasse Pakete aufgeben kann, müsste es wohl auch gewogen, frankiert, bezahlt, quittiert und zuletzt verstaut werden. Was schon ein Stück dauern dürfte. Länger sicher als mein lausiger Einkauf. Und natürlich hat sie Recht mit dem, was sie sagt. Jeder hier hat es eilig. Jeder will hier raus. Niemand steht gerne im Supermarkt in der Schlange und freut sich über jeden dahergelaufenen Honk, den er vorlassen kann. Mir geht es nicht anders. Ich muss ja auch los. Auf mich wartet mein Masseur.

„Ich muss aber weg, kann ich das nicht schnell…?“ Er wieder zu ihr und immer noch nicht zu mir, dessen Waren sie jetzt beginnt, langsam, liebevoll, als würde sie zärtlich einen auf jeden Fall unrasierten polnischen Männerarm kribbeln, über den Scanner zu ziehen. Sie lässt ihn wirklich abfahren. Mit einer beeindruckenden Ruhe. Nicht ein Zucken der Mundwinkel. Komplette Ignoranz. Erhaben. Fast was Künstlerisches. Was sie da tut ist wahre Meisterschaft im Auflaufenlassen. Das ist der Moment, an dem man als Kontrahent aufstecken sollte. Weil das Ding spätestens jetzt nicht mehr zu gewinnen ist.

„Mann, wo ist denn jetzt das Problem?“ Er doch nochmal nachsetzend. Aufbrausend. Während sie weiter scannt. Mit dieser Ruhe, die ich schneiden könnte, hätte ich ein Messer zur Hand. Ich bin jetzt hellwach, habe mich aus meinem Introtunnel geholt und will jetzt wissen, wie das ausgeht. Ob er aufgibt. Oder nochmal nachlegt. Die Frau mit dem Hausrecht doch noch zu bezwingen versucht. Barthel. Most. Frosch. Locken. Hängender Hammer. Und so weiter. Er hat jetzt vier Dinger in eskalierender Reihenfolge gebracht und nichts erreicht. Wird trotzdem nicht vorgelassen. Er sollte jetzt wirklich gehen. Die Niederlage einstecken. Möglichst in Würde, die er eigentlich schon jetzt nicht mehr hat. Das Ding ist durch. Er hat nicht gewonnen. Er kann hier heute gar nichts mehr gewinnen.

„Mann ey, scheiße mann…“

Es ist ein machtpolitisches Massaker und sein endgültiger Untergang. Die Kassenfrau reagiert immer noch nicht auf seinen jetzt aufgebracht gewordenen Ton. Mir war schon vorher klar, dass sein Aufplustern nicht verfangen wird. Die Deutschen kriegste mit solchem Druck, weiß jeder, die Deutschen kriegste immer mit Druck. Irgendwann knicken die wie Grashalme. Die Polinnen kriegste so nicht. Je mehr Druck jemand macht, desto stur. Und so langsam gefällt mir das. Dass mal einer mit seiner Eskalation aus aufgesetzter Eile und offensiver Lautstärke nicht durchkommt. Dass mal jemand nicht einknickt. Dass druckvolle Dreistigkeit im Überrumpelungsmodus einmal nicht klappt. Und dass den das irritiert. Und sein Helium entweicht wie das eines Wetterballons mit Loch in der Hülle.

„Gibt’s doch nicht, das…, kann doch nicht…“ Er fuchtelt noch kurz aufgebracht mit seinem Paket in der Hand im Raum herum, kann aus Gesichtsverlustsgründen jetzt natürlich nicht mehr nach hinten in die Schlange gehen und verlässt daher fluchend die Arena. Als er nicht mehr zu sehen ist, höre ich ihn immer noch. Er blökt draußen jemanden voll.

„16,73, haben Sie Payback?“, sagt sie zu mir. Jetzt lächelnd. Mehr nicht. War was? Nein. Nix war. Nur eine beeindruckende Demonstration von reizender Sturheit. Ich bin schwer verliebt.

Tjo. Hätte der Typ mal mich gefragt, ob er vor darf. Wär‘ dann anders gelaufen. Hat er aber nicht. Verstehe den wer will. Den Honk. Aufs Brot geschmiert isser worden. Das Gesicht hatter verloren. Und die Contenance hinterher. Vor Publikum. Glückwunsch.


Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Honk (44)