Lu Li Launedemo

Ja cool, sind doch noch Demos erlaubt in Berlin, wenn auch nur die der Kommunisten, aber okay, man nimmt was man kriegt dieser Tage und ich war schon so lange nicht mehr auf einer Demo. Mir ist arschlangweilig. Kalk rieselt aus meinem Ohr. Shutdownblues. Wolkendruck. Die Decke rückt tiefer. Die Wände kommen näher. Lass mal rausgehen. Lass mal hingehen. Kurz mal frische Polarluft reinböng. Paar Leute. Egal welche. Nach zwei Monaten Schmoren in der Muffbude nehme ich jeden. Gerne auch Kommunisten.

Das Schöne daran, wenn Sie wie ich kaum noch eine Meinung zu irgendwas mehr haben, ist, dass Sie überall hingehen und mitlatschen können. Überall. Zu jedem Anliegen. Völlig wumpe. Hühnerzüchter. Tierschützer. Buddhisten. Landwirte. Abtreibungsaktivisten. Omas gegen Rechts. DDR-Romantiker. Scheißegal. Ich latsche überall mit, wenn es nicht gerade die Al Quds-Brigade oder die NPD ist. Wobei, auch zu den diesen komischen Maßnahmenkritikern, die die Coronamaßnahmen von Spahn und Söder nicht gut finden, würde ich gerade nicht gehen. Nicht die Zeit für sowas. In der öffentlichen Wahrnehmung stehen Sie damit faktisch sofort auf einer Stufe mit dem Kannibalen von Rotenburg und Hermann Göring. Und bei meinem Glück lande ich womöglich noch zufällig mit meinem Konterfei auf einem Schnappschuss unter einer reißerischen Überschrift auf einem ihrer aufmerksamen Internetportale und der Borgwürfel schickt mich fortan bei halbiertem Gehalt nach hinten ins Lager zur Kontrolle der Warenlieferungen, weil ein toxischer Kantonist, der womöglich die Maßnahmen nicht mag, besser keinen Kundenkontakt mehr hat. Schwierig alles. Da muss man gut aufpassen im Moment.

Ich habe komische Erfahrungen mit Kommunisten. Das rührt noch aus der Zeit um das Millennium her. Wir haben da in Nord-Neukölln eine kleine lustige Antifagruppe gegründet, was besonders skurril war, weil es in Nord-Neukölln gar keine Nazis gab, sondern die waren alle in Rudow und Buckow versammelt und kamen selten bis zum S-Bahn-Ring hoch. Aber egal. Eigentlich wollten wir nur cool sein. Der Kozel. Der Ziegenfick. Und ich. Und ein paar andere Spacken aus unserer runtergenudelten Idiotenschule. Fred. Manu. Der Garcia. Saßen wir da und haben eigentlich nur gekifft. Und mit der Lackdose „Nazis raus“ in die seit der Weimarer Republik nicht mehr sanierten Hauseingänge gesprüht, wobei hinter diesen Hauseingängen gar keine Nazis wohnten, sondern nur Italiener, Jugos, Araber und die freundliche türkische Familie, die versucht hat, mit ihrem winzigen Gemüseladen dem Babo von Gida Supermarkt auf der Karl-Marx-Straße Konkurrenz zu machen. Aber egal. Das war uns grützwurst. Hauptsache taggen. Denn wir waren noch klein und Attitüde war alles. Und dahinter war nix.

Weil wir sechs Vollidioten jetzt Antifa waren, haben wir zum Abhängen stundenweise einen Raum im bezirkseigenen Jugendclub bekommen, das war kein Problem, da gehste hin, sagst du bist ’ne Gruppe und bekommst ’nen Raum, was immer noch besser ist als im Winter auf dem Stromkasten neben der Tankstelle zu sitzen und sich beim Kiffen die Eier abzufrieren. Im Club war’s warm. Und sie hatten Sessel. Und Sozialarbeiter, die uns alles durchgehen ließen. Das war neu. Dass uns jemand was durchgehen ließ. Wir fanden das gut.

Das ging eine Weile so, ohne dass irgendwer in der Außenwelt signifikant irgendwas von uns mitbekam. Ein kleines Transpi („Nazis raus“) für eine kleine, wie immer nichtsbewirkende Demo am Hermannplatz haben wir gemacht. Ein paar Spuckis, die sowieso keiner liest, für irgendwelche Laternenpfähle. Die wöchentliche Inventur der geklauten Spraydosen und abgerissenen Mercedessterne. Einmal in der Walpurgisnacht haben wir, krasseste Aktion ever, ein paar Steine auf Bullenwannen geworfen (vergessen Sie’s, ist verjährt). Schön feige von der Hundewiese Richtung Eberswalder und dann stiften gegangen, als die Robocops ausstiegen. Sonst war nur in den Club geschmuggeltes Bier. Haschkekse von Carmen, die die besten Haschkekse buk. Und Garcias mies ausgedruckte Tittenbilder, die er stolz wie Bolle von einem FTP-Server aus Übersee runtergeladen hatte. Ja, so war das. Wir hatten ja nix.

Irgendwann kamen die Kommunisten. Erst einer, dann zwei, dann fünf. Das waren junge, saubere Typen. Westen. Halbschuhe. Echte Frisuren. Die kamen von einer Organisation, die den sperrigen Namen „Sozialistische Alternative Voran“ trug und die irgendwann damit anfingen, bei uns im Kabuff zu sitzen und abwechselnd zu dozieren. Eigentumsfrage. Das Kollektiv. Klassenstandpunkt. Die Revolution. Leo Trotzki. Die 45. Sektion der 18. Internationale. Und warum Stalin kein echter Kommunist war. Vor ihnen sitzend kleine blöde verstrahlte Kiffer, die gar nicht wussten, was von ihnen erwartet wurde und die maximal ein Zehntel der Vorträge verstanden. Aber die Kommunisten hatten Geduld und das braucht man wohl auch als Kommunist, sonst kann man es gleich lassen.

Wir bräuchten vor allem Mitgliedsausweise. Haben sie gesagt. Kein Scheiß. Mitgliedsausweise. Damit wir uns ausweisen können. Sie haben auch welche mitgebracht. Es waren ihre. Die kosten auch nix. Haben sie gesagt. Und daneben haben sie ihre Zeitung gepackt. Die hieß „Voran“ und mit der sind sie umhergezogen, um sie zu verkaufen, in Jugendclubs, auf Demos, Konzerten oder einfach so auf dem Hermannplatz für Leute, die gerne beim Aussteigen aus der U8 was über die Diktatur des Proletariats lesen wollen. Und weil wir jetzt eine echte Gruppe (mit Mitgliedsausweisen!) waren, sollten auch wir die Voran verkaufen gehen.

Hat aber keiner gemacht. Wir haben keine einzige Zeitung verkauft. Wir wollten gar keine Zeitungen verkaufen. Wir waren Punks und Arbeit war kacke. Aber wir waren jetzt Mitglieder der „Sozialistischen Alternative Voran“. Haben sie uns gesagt. Und es ist nun mal so, dass Mitglieder immer auch Pflichten haben. Die erfüllt werden müssen. Sie merken schon: So richtig ging das nicht zusammen mit uns und denen.

Wir mochten die Kommunisten aber auf irgendeine Art, auch wenn sie seltsam waren. Sie waren ja nicht unfreundlich. Nur steif. Und verklemmt. Und so anders als die Schläger aus der Schule. Oder die Siffer hinter der Schulturnhalle. Sehr ernst. Sehr eifrig. Und nur einmal locker und zwar an dem Tag, an dem sie einen ihrer Genossen aus einer Schwesterorganisation mit dem coolen Namen Militant zu Besuch hatten, Neill aus Belfast (Name geändert, vergessen Sie das googeln), Supertyp, den wir sofort liebten, weil dieser verdammte Nordire mehr saufen und kiffen konnte als wir und während dessen Besuchs die Kommunisten samt Stock im Darm einmal so taten, als wären auch sie locker, smooth, flockig unterwegs. Das war echt süß. Wirklich. Wir hatten nix gegen die.

Ich weiß heute echt nicht, warum wir den fünf theoretisierenden Revolutionären mit ihren atemlosen Stakkatosätzen über Stalin, Luxemburg und die Weltrevolution so lange still zugehört haben, dass die dachten, ihre Sache wäre was für uns. Zwei Monate. Zweieinhalb maximal ging das. Vielleicht weil das was Neues war. Wir kannten sowas ja alle nicht. Woher auch. Trotzki. Klassenstandpunkt. Revolution. Mitgliedsausweise. Voran. Bla bla bla. Wir haben uns die Typen wirklich lange reingetan. Bis mal einer mit träger Kifferstimme sagte: „Nee, ick glaub dit is allet nix für uns.“, worauf wir anderen alle auch endlich sagten: Ja. Nee. Dit is nix. Sorry. Und Kozel aus seinem Mitgliedsausweis einen Filter für die Tüte zurechtriss. Dann gingen die fort. Menschlich enttäuscht. Haben sie gesagt. Einer sauer. Mit uns sei kein Staat zu machen. Da hatte er Recht. War nicht. Staat fanden wir doof. Und ich zumindest finde Staat heute noch doof. 20 Jahre später. Immerhin eine Sache, die aus der Zeit geblieben ist. Zusammen mit der Musik.

Ich habe ein paar von den Kommunisten von damals gegoogelt. In diesem postprivaten Zeitalter finden Sie ja alles inzwischen. Was die machen. Wo die wohnen. Wie die aussehen. Und die meisten sind Klischee. Angekommen im System. Schlimmer als ich. Steuerberater einer. Haarausfall kreisrund. Der nächste wurde Polizeikommissar. Hält Vorträge vor blasiertem Bürgertum. Und bildet den bedauernswerten Polizeinachwuchs aus, womöglich sogar die nächste Runde Knüppelgarde. Ein anderer ist jetzt Anwalt. Für Insolvenzrecht. Grinst gewinnend in die Linse. Krawatte nachlässig gebunden. Mit dem stolzen Vater an der Seite, in dessen Kanzlei er einstieg.

Nur einer zieht seine Sache immer noch durch. Macht immer noch weiter. Als hätte sich nichts weitergedreht. Führt mickrige Demos gegen das Kapital vor lausigen Einkaufszentren in Pankow an. Ruft immer noch vor 15 Leuten seine trotzigen trotzkistischen Parolen in ein Megafon, als wäre das hier 1917 und die Parkbank mit dem Sparkassenlogo eine Barrikade. Ist sich treu geblieben. Zettel verteilen. Megafonbrüllen. Und vermutlich immer noch mit den alten Mitgliedsausweisen durch die Jugendclubs ziehend. Ich bewundere das. Ganz ernsthaft. Diese Konsequenz. Der nach 20 Jahren immer noch glühende Idealismus. Dieser Glaube. Und das Sendungsbewusstsein für eine Sache, von der er immer noch überzeugt ist und die kein Stück voran (haha) geht. Es beeindruckt mich ernsthaft. Wenn Sie selber für nichts stehen, schauen Sie Menschen mit ihrem unbedingten Willen zum Gestalten ihrer Umwelt zu wie einem Pfau beim Radschlagen, dessen Gebaren nicht weniger verstörend ist, aber doch sehr beeindruckend auf eine Art. Ehrlich, ich versuche das nicht herablassend klingen zu lassen (was mir natürlich nicht gelingt, allein schon wegen des Pfauvergleichs), aber diese Konsequenz beeindruckt mich wirklich.

Auch wenn ich weiß, dass mich das Gebaren nur so lange beeindrucken wird, so lange der eifrige Konsequente nicht an der Macht ist und mich mit Verhaltensregeln nervt.

Diese Organisation, die uns hoffnungslose Verkacker damals mit ihrer rührenden Ernsthaftigkeit in ihre Reihen rekrutieren wollte und dabei krachend scheiterte, gibt es immer noch, sie hat sogar einen Wikipediaeintrag. Dort steht zur Situation heute: Ende Juli 2019 gab die Mehrheit des Bundesvorstandes der SAV u. a. auf ihrer Homepage bekannt, dass sich die Organisation, so wie auch die internationale Verbindung CWI, spalten werde. Die Bundesvorstandsmehrheit wirft dabei den anderen Sektionen der CWI und dabei vor allem denen aus Irland, Griechenland und den USA vor, lediglich noch „Identitätspolitik“ zu betreiben.

Oh kucke. Wieder die Identitätspolitik. Die berühmten Pomos. Die auch die süße flauschige Piratenpartei ausgeweidet haben. Zersetzen jetzt sogar die allerletzten marginalen Randgruppen. Unsere armen alten Jugendclubkommunisten. Reife Leistung. Wäre ich Inlandsgeheimdienst, würde ich nur noch Pomos an den Start bringen. In jede Gruppe eine Handvoll. Die sind effektiver als jeder V-Mann. So schnell wie die zerhackt niemand jede Opposition.

(nutzloser Einschub, von dem ich nicht weiß, wo ich ihn sonst hinpacken soll: Später in meinem Leben kamen noch einmal Kommunisten vorbei. Wieder uneingeladen und sendungsbewusst. Dieses Mal im Internet. Auf meinem alten Blog mit dummerweise aktivierter Kommentarfunktion. Dort haben sie wieder was von Klassenstandpunkt erzählt. Was ich darf und was nicht. Wo ich essen gehen darf und wo nicht. Worüber ich schreiben soll. Wie ich es schreiben soll. Und was ich nicht schreiben darf. Dass ich wählen gehen soll. Oder nicht wählen gehen soll. Was ich nicht wählen darf. Oder wählen muss. Und umgekehrt. Irre Typen. Anders. Aber nicht weniger irre. Willkommen in meiner Welt. So ist das bei mir. Immer schon. Menschen sagen mir ungefragt, was ich tun soll und nicht tun darf. Überall. Und das ist spitze. Mag ich voll. Jeder mag das.)

Soweit zu Kommunisten und mir.

Genug des Flashbacks.

Da sind wir nun.

2021.

Coronaparalyse. Virusagonie. Li La Lockdown. Im fiesesten Winter der Welt.

Frankfurter Tor. Liebknecht und Luxemburg. Eine legale Demo. Und das zu dieser illegalen Zeit. Aber immerhin sehe ich in einem Meer von roten Sternen, Hammern und Sicheln auch die Partei Die Linke. Also läuft hier quasi auch meine Berliner Stadtregierung mit. Legaler als heute hier kann ich also nicht mehr sein. Ich fühle mich großartig. Endlich bin auch ich Teil der Mehrheitsgesellschaft. Laufe neben der Fahne der Regierung mit. Anerkannt und respektiert. Ich fühle mich so toll, ich könnte mich glatt bei Twitter registrieren. Nur um jemanden zu melden.

Bersarinplatz. Frankfurter Allee. Zuckerbäckerbauten. Kalt. Wolkig. Dose Jack Daniels-Cola vom Späti. Auf dem Weg zum Happening spricht mich ein Typ an. Natürlich spricht er mich an. Und nicht einen der Rotfahnenträger um mich herum. Das liegt daran, dass ich nur deshalb auf dieser Welt bin, damit fremde Menschen jemanden haben, den sie ansprechen können. Ich glaube, er findet die Kommunisten nicht gut, denn er sagt: „Komm. Jeder einen festnehmen. Rinnin Sack. Druffhauen. Feddich.“ Offenbar ein gelangweilter Zivibulle, der mich für einen Kollegen hält. Ich lasse ihn stehen, denn ich muss demonstrieren gehen.

Bis ich am Treffpunkt ankomme, an dem einer auf einem Lauti (bildungsbürgerlich: Lautsprecherwagen) mit seiner Klampfe das wunderschöne „Bella Ciao“-Lied spielt, habe ich schon einen ordentlichen Stapel an Papier in der Hand. Agitation. Flugblätter. Aufrufe. Buchstaben über Buchstaben. Ich verspreche mir selbst, das alles zu lesen, denn ich will ja immer wissen, was sie zu sagen haben. Alle. Jeder. Vielleicht ist es ja bedenkenswert. Oder nicht. Was ich nur weiß, wenn ich das lese. Eine altmodische Einstellung, das weiß ich, aber ich bestehe darauf.

Sie sehen, ich fotografiere außer diesen fünf Celebrities auf dem Plakat hier keine Gesichter. Macht man nicht. Nicht auf Demos. Galt früher, gilt heute. Denn ich weiß noch, was das für Leute sind, die auf Demos Gesichter fotografieren. V-Männer. Zivis. Die Bullen. Wir nicht. Wir fotografieren keine Leute. Ich fotografiere keine Leute. Es gibt Routinen, die verlernen Sie nicht.

Sie betreiben klassischen Personenkult hier. Lenin. Liebknecht. Luxemburg. Die sie zärtlich Wladimir, Rosa und Karl nennen. Und ich fremdele wieder schnell. Personenkult ist mir suspekt. War immer so. Ich kann damit nichts anfangen. Dieses Aufschauen. Heiligsprechen. Zitatedreschen. Heroisieren. Egal von wem. 2Pac. Kurt Cobain. Elon Musk. Die Medien und die Merkel. Die Maskenfans und der Söder. Nix. Kein Bock. Ich mag nicht zu anderen Leuten aufschauen, egal was die mal gesagt haben und egal, welche Superideen die hatten. Das hat was von irrationaler Heiligenverehrung und ich bin nun wirklich nicht religiös. Weil ich weiß, dass auch Rosa Luxemburg dünn geschissen hat auf dem Donnerbalken. Wie ich. Wie Sie. Wie alle.

Das Durchschnittsalter in der Bücherwurmecke bei den tapferen Tapeziertischständen mit dem vielen Papier, die ich passieren muss, um zum Pulk zu kommen, ist 105. Alter Ostadel. Hier lebt die DDR. Alle da. Stalin. Mao. Vietkong. DKP. MLPD. Das ganze Kurisitätenkabinett, das sonst auch bei allen anderen möglichen Gelegenheiten (Anti-Überwachung, Agrarwende, Schülerdemo, Anti-Bebauungsprotest, wasweißichalles) auf den Plan tritt und Papier verteilt.

Vorne bei den heißblütigen Junggenossen gibt es derweil Gerangel mit der Polizei. Ich erkenne: Es sind die gleichen Spielchen wie vor 20 Jahren. Nur mit den neuen Coronaroutinen als Anlass. Die Bullen fordern Abstände. Drängen aber den Pulk mit ihren Behelmten zusammen, so dass streng genommen niemand Abstand einnehmen kann, so er es denn wöllte. Es gibt Gebrülle. Gegengebrülle. Geschubse. Gegengeschubse. Den ersten Knüppel. Es schaukelt sich nach Drehbuch hoch. Ich kenne das von früher. Hier will heute niemand ohne handfeste Konfrontation vom Feld gehen. Als es zu eng wird, zündet schließlich ein Verwegener einen Polenböller und das ist dann das Signal. Die Bullen gehen rein, die Kommunisten schlagen mit ihren Fahnen, die Bullen kontern mit Knüppeln, treiben auseinander, holen ein paar Fahnenträger aus der Deckung hervor und führen sie Kopf Richtung Boden gedrückt ab. Drehbuch. Sag ich ja.

Anlass für das überflüssige Geknüppel auf dieses kleine Häuflein und die doch zahlreichen Festnahmen sind nicht nur die geforderten Abstände, sondern auch Fahnen nebst Blauhemden der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, der ehemaligen Jugendorganisation der DDR, die 1952 in Westdeutschland verboten wurde und deren Insignien deshalb laut Polizei auch heute nicht gezeigt werden dürfen, wobei sich die Frage stellt, ob sich das uralte Verbot mit der Deutschen Einheit wegen der aus der DDR legal rübergemachten Ost-FDJ nicht erledigt hat.

Und überhaupt frage ich mich, ob es nicht besser wäre, die zehn FDJ-Nostalgiehansel einfach mitmachen zu lassen, ohne sie zum Anlass für diese immeralten und aus der Außenperspektive wirklich blöden Machttaktikspielereien zu nehmen, was doch deeskalierend wirken dürfte, aber gut, was weiß ich schon, ich bin ja nur zufällig hier reingelaufener Langeweilelockdownbürger mit ausladender Tagesfreizeit ohne Einblick in irgendwas, vielleicht verhindert die Berliner Polizei hier ja gerade proaktiv die proletarische Revolution in der linksregierten Hauptstadt, kann ja sein, dass ich den strategischen Geniestreich aus meiner Froschperspektive schlicht nicht erkenne.

Eine Frau agitiert derweil im Stakkato von einem Lauti herab. Die Bundesregierung sei von Faschisten durchsetzt. Die Polizei auch. Überhaupt rücke das ganze Land nach rechts wie nie zuvor. Was sie sagt, steht in irritierendem Kontrast zu dem, was andere sagen, konkret: Konservative erzählen mir, der Staat sei in einem nie so dagewesenen Linksruck von Kommunisten unterwandert, die Kommunisten erzählen mir aber, er sei von Faschisten durchsetzt. Was mich mit der Frage zurücklässt: Was denn nu‘?

Dann kommt wieder Musik. Der Bella Ciao-Mann mit der Klampfe haut noch einen raus. „Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist.“ singt er schön und das ist sehr nett, wirklich, ehrlich nett, aber ich bin beim besten Willen kein Arbeiter, wirklich nicht, ich verdiene mein Geld mit haltlosem Bullshit. Was ich herstelle (Heiße Luft + Powerpoint + dreistes Geblende), wird nur im Kapitalismus gebraucht und hat mit Arbeit im herkömmlichen Sinne nichts zu tun. Ich glaube, wenn der Kommunismus sich durchsetzt, hat mein ganzer Borgwürfel ausgedient. Plus ich. Und der Pawlowski. Die Greulich. Weil für den Scheiß, den wir bauen, keiner mehr bezahlen würde.

Dann redet wieder eine Frau. Überhaupt reden bei den Kommunisten fast nur Frauen. Diese hier ist euphorisch: „Das hier ist die größte Demo für den Sozialismus in Europa!“ Oha. Wenn das ernst gemeint ist, ist der Sozialismus tot wie Trotzki. Denn um mich herum stehen maximal 800 Leute. 1.000 mit Wohlwollen. Ich glaube, das hier reicht nicht einmal dafür, das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung zu besetzen. Würde das heute überhaupt einer zum Zwecke der Machtübernahme besetzen wollen.

Am Ende ihrer euphorischen Rede gegen Monopole, Trusts und internationales Großkapital heizt die junge Frau den 20 fahnenbewehrten Leuten ihrer MLPD-Jugendorganisation mit dem Namen Rebell, die vor ihrem Lauti stehen, heftig ein:

GEBT MIR EIN R! GEBT MIR EIN E! GEBT MIR EIN B! GEBT MIR EIN E! GEBT MIR EIN L! WAS SIND WIR? REBELLEN!

Ich habe Gänsehaut.

Auch wenn sie ein L zu wenig in den kalten Januartag gepeitscht hat. Just sayin‘.

Okay. Gut jetzt. Was habe ich gelernt? Die internationale Solidarität muss hoch. Den Bullenstaat BRD haben sie zum Kotzen satt. Bullen sind Schweine. Sollen abhauen. Und Lenin, Liebknecht und Luxemburg schaffen den Sozialismus von morgen. Weil der wissenschaftliche Sozialismus eine Renaissance verdient hat.

Haben sie gesagt. Da oben auf ihrem Lauti. Mehr habe ich nicht mitbekommen. Es war halt zu laut.

Und noch eine wichtige Sache habe ich gelernt. In einer Zeitung, die sie mir in die Hand gedrückt haben, stand, dass die Linksjugend Solid nicht die richtigen Antworten entwickelt:

Kreuzverdammte Linksjugend Solid. Brumme ich in den Quarantänebart, an dem sich inzwischen Rotzreif unter der Nase gebildet hat. Verdammte Linksjugend Solid. Auch wenn ich bis eben gar nicht wusste, dass es so etwas wie die Linksjugend Solid gibt.

Tjo.

Und das war mein Sonntag. Mitten im Killervirus. Ein erzkommunistischer Spaziergang. Mit Hammer. Sichel. Lenin. Was soll ich auch machen, wenn zur Freizeitgestaltung an der frischen Luft sonst nichts mehr zulässig ist?

Sie können mir das jetzt glauben oder es lassen, aber ich bewundere Menschen, die Dinge können, die ich nicht kann. Davon gibt es viele. Heizungsbauer. Automechaniker. Informatiker. Bassisten. Jongleure. Zauberer. Philanthropen. Hier heute: Menschen, die ein Weltbild haben, das ihnen Halt gibt. Eine Stütze ist. Klare Fronten. Hier wir. Da die. Zugehörigkeit. Keine offenen Fragen. Alles erklärbar. Alles mit Struktur. Und dann dieser unbedingte Wille, die Gesellschaft danach zu formen. Auch 2021 immer noch die Energie aufzubringen, die eigene Wahrheit mit Pathos, Vehemenz und Lautstärke in die Welt zu bollern. Mit dieser absoluten Überzeugung, das Richtige zu tun. Beeindruckt mich. Sehr ehrlich. Denn all das habe ich nicht. Nichts davon. Keinen Antrieb, irgendwen von irgendwas überzeugen zu wollen. Keine Meinung mehr außer einer diffusen Bockigkeit gegenüber Autoritäten, egal unter welchem Banner sie mich gängeln wollen. Sonst keine Agenda. Für mich ist nichts dabei auf dem Gesinnungsgrabbeltisch. Kein Weltbild. Keine Idee. Und keinen Bock. Ich lasse mich wieder so treiben wie schon vor 20 Jahren. Dorthin. Hierhin. Hü. Hott. Wumpe. Alles läuft irgendwie. Nehmen wie’s kommt. Ich sollte diesen Ghul von Blog umbenennen in „Was mir alles scheißegal ist“ und ich würde vor meinem Tod nicht damit fertig werden aufzuzählen, was mir noch alles egal ist, selbst wenn ich jede halbe Stunde was Neues schreiben würde. Heute hier. Morgen dort. Mal so. Dann da wieder. Einerlei. Und da oben die Verbrecher. Machen ja eh was sie wollen. Alles ist egal. Und relativ sowieso. Buddhisten. Hühnerzüchter. Schulstreik.

Free Palestine.

Regierungswechsel in Peru.

Liebknecht.

Die Oma gegen Rechts.

Stricken fürs Klima.

Nachbars Lumpi.

Mein Hirn.

Auf Wiedersehen. Do widzenia.

Bis bald wieder in der Lockdownparalyse.


Wer lieber gerne Seriöses liest: Das kalte Herz des Kapitalismus