Lass dein Kind fliegen, Vater

Neulich in der dreiköpfigen Väterumlaufbahn an einem Nachmittag auf einer runtergerockten Couch mit handgeröstetem Fair Trade-Kaffee und Biomareikes Karottenkuchen kommt ein zehnjähriges Kind, das nicht meines ist, sondern das des Vaters neben mir, nach Hause:

„Hallo Papa.“

„Hey Kleine, wo hast du denn den Lolli her?“

„Von einem Mann an der Haltestelle. Er wollte nur einen Kussi dafür haben.“

(…)

Tick.

Tack.

Puh.

Boom.

Na?

Getriggert?

Ja?

Nein?

Egal?

Nicht egal?

Wie hätten Sie reagiert?

Blutdruck hoch? Bestimmt.

Puls durch die Decke? Na klar. Nicht? Bleiben Sie da cool?

Oder rasten Sie aus? Brotmesser aus der Schublade geholt und los? Nee, oder? Bringt ja auch nix. Den Typen kriegen Sie nicht mehr. Und wenn doch, was dann? Als Ziffer in der Kriminalstatistik enden? Als einer von denen, die es selbst in die Hand genommen haben? In der Wut? Einer von denen werden, die auf Bewährung verurteilt werden? Wegen Affekt. Aber vorbestraft. Job vermutlich weg. Geld damit auch. Und der Platz in der Privatschule geht flöten, auf die Sie das Kind in vorbeugender Notwehr ob der chronisch zersifften öffentlichen Schulen der Hauptstadt gesteckt haben. Das geht alles den Bach runter, wenn Sie die Dinge selbst regeln. Alles. Geld. Schule. Wenn Sie eine Beziehung haben, dann die auch. Zuletzt Ihr Kind. Weil Sie einen Lollischenker, der Kinder auf dem Schulweg anspricht, gerichtet haben.

Aber nein. Sie hätten nichts gemacht. Oder wie mein Bekannter maximal die mit sowas wie sowieso mit allen möglichen Dingen überforderte Berliner Polizei gerufen, deren Staatsanwältin das Ablaufen der Karenzzeit unverzüglich für die Einstellung des Verfahrens nutzen würde. Weil sie in Berlin Verfahren einstellen als gäbe es Pokale mit Leistungsprämie dafür, wer die meisten Verfahren von Geschädigten einstellt. Im Prinzip können Sie hier in Berlin außerhalb von Kapitalverbrechen alles machen. Es interessiert kein Schwein. Und wenn es doch mal ein Schwein interessiert, das sich tatsächlich zu einer Anzeige durchringt, weil so ein Übergriff doch die Grenze des Zumutbaren überschreitet, dann stellen sie es ein.

Mein Kind geht jetzt seit Neuestem alleine zur Schule. Und das beschäftigt mich. Ich stehe seit ein paar Wochen auf dem Balkon und schaue hinterher. Und wenn es zu kalt draußen ist, stehe ich drin am Fenster und schaue. Habe am ersten Tag sogar in der Schule angerufen. Um mich der Ankunft zu vergewissern. Ich kann nix dafür. Wenn Sie ein Kind haben, läuft Ihr eigenes Herz draußen herum. Immer in Gefahr, dass es jemand plattmacht. Ein Lieferwagen. Quietschende Reifen. Seitentüre auf. Kind rein. Seitentüre zu. Kind weg. Später wieder da. Aber zerrüttet. Sicher ist so zu denken krank und ich versuche nicht so zu denken, doch Sie bekommen das schwer raus, wenn Sie Sorge für jemanden tragen. Zumindest wenn Sie ich sind und nunmehr diese ganzen Jahre dieses Kind großgezogen haben, alles mitgegeben haben was Sie wissen, alles was Sie können, Situationen geübt haben, Gefahrenbewusstsein geschaffen, aber auch die nötige Lockerheit vermittelt haben, bis dann der Tag kommt, an dem Sie loslassen müssen, an dem das Kind die Haustüre hinter sich schließt, zur M4 läuft, davor eine zweispurige Hauptstraße überquert, irgendwann aussteigt, dann nochmal eine Hauptstraße überquert, auf der geistesgestörte Autofahrer mit 80 durch die Gegend heizen, und eine Ecke weiter einen Zebrastreifen mitnimmt, vor dem selbst für Kinder nie ein Radfahrer anhält, um irgendwann hoffentlich in der Schule anzukommen.

Hoffen Sie. Dass Ihr Kind heil ankommt. Dort auf Ihrem Balkon. Meinem Balkon.

Bis Sie irgendwann weit am Nachmittag den Schlüssel im Schloss hören. Und das Kind wieder da ist. Das große Kind, das jetzt sein Ding allein dreht und stolz im Flur steht, Schlüssel in der Hand. Gesund. Heil. Im ganzen Stück. Und keiner hat es in einen Transporter gesteckt und ist damit auf irgendein Nordbrandenburger Gehöft gefahren, auf dem es niemand mehr wiederfinden würde, schon gar nicht die Berliner Polizei.

Ich bin ja gebrannt. Kurz vor dem Fliegenlassen ist einer der berühmten Berliner Assis auf das Kind losgegangen. Auf dem Weg zur Schule. Als ich noch begleitet habe. Hat sich runtergebeugt und es angebrüllt. Aus dem Nichts. Plastiktütenschwingend. Geiferspeiend. Fusselbartstinkend. Ich habe den Typen mit einem Arschtritt vom Kind weggepolkt. Und ich werde das auch jedes nächste Mal wieder machen. Denn auch wenn hier Berlin ist, kann keiner von mir verlangen, bei sowas wieder einmal nichts zu machen, das hinzunehmen, passiv zu bleiben wie alle, denen sie beibringen, sich nie gegen irgendwas zu wehren.

Nun, es war nur ein Arschtritt, und trotzdem gab es einen, der mir abends mit Gin Tonic in der Hand sagte: Kannste doch nicht machen. Das geht doch nicht. Nein? Kannste nicht? Was stattdessen? Hinnehmen, dass der ans Kind rangeht? Nichts tun? Tolerieren? Ja ja. Doch doch. Ich weiß ja. Ich toleriere ja auch fast alles, ich bin quasi Berlin als Einzelperson. Mir ist fast alles komplett egal geworden. Sie können in der S-Bahn rumblöken, auf der Straße in Ihrer eigenen Scheiße sitzend onanierend die Lage der Dinge anprangern oder mich sogar direkt anschreien, ich versuche immer, ein über alle Maßen friedlicher Mensch zu sein und Sie in Ihrem urberliner Recht, anderen möglichst penetrant auf den Sack zu gehen, nicht einzuschränken. Doch greifen Sie auf mein Kind über, trete ich Ihnen in den Arsch. Versprochen. Und hören Sie danach immer noch nicht auf, haue ich Ihnen aufs Maul. Unverzüglich. Und hart. Weil ich fest daran glaube, dass jedes Appeasement Grenzen hat. Haben muss. Weil manche eben nicht aufhören. Und es nicht anders lernen. Und weil es Dinge gibt, die man selbst in Berlin nicht tut.

Ein paar Monate vor ihm war schon einer seiner Kumpels an uns dran. Lief durch die U2. Ein Assi. Blaffte die Leute wahllos an. Blieb vor meinem Kind stehen. Und riss an dessen kleiner Kinderkette am Handgelenk und blökte dazu. So. Können Sie mir das erklären? Was das soll? Früher gab es die ungeschriebene Regel, dass die Assis zwar wahllos dumm rumbrüllen, aber wenigstens die Kinder in Ruhe lassen. So viel Restwürde hatten sie noch. Sie sind nicht an die Kinder gegangen. So wie ich das sehe, ist das mit der Restwürde vorbei. Und das bedeutet, ich muss dem Kind jetzt beibringen, wie es damit umgeht, wenn es von einem von denen angegangen wird und ich nicht zufällig dabei bin, um den wegzutreten.

Rennen. Sage ich auf die Frage, von der klar war, dass sie kommen musste: ‚Papa, was soll ich tun wenn ich alleine bin?‘ Ja. Rennen. Einen sicheren Platz suchen. Vielleicht eine Bäckerei. Lidl. Andere Eltern. Bauarbeiter. Hey, und was hältst du davon, wenn wir dich beim Kampfsport anmelden? Du musst dich verteidigen können, wenn es ernst wird. Denn wenn nichts mehr hilft, musst du dich wehren können. Ja, da können Sie jetzt pikiert schauen, aber was bleibt sonst? Und Sie können sich die Blicke der Appeasement-Prenzlauer Berg-Eltern vorstellen, wenn sie hören, dass es Kinderkampfsportgruppen gibt, die Wartelisten bis ins Jenseits haben, weil offenbar eine enorme Nachfrage besteht und wir da jetzt auch auf der Warteliste stehen. Das geht doch nicht. Das kann man doch nicht machen. Nein, das geht doch nicht.

Aber was sonst gehen soll sagen sie nicht. Und ich habe keine Ahnung, ob das wirklich richtig ist, was ich tue. Sage. Vermittle. Oder ob es falsch ist. Und wo das alles hinführen wird. Nur ist gar nichts zu tun, nichts zu vermitteln, keine Orientierung zu geben auch keine Option. Da steht jemand, der will Antworten und ich muss welche geben. Und es sagt Ihnen ja keiner, was zu tun ist. Außer dem üblichen Vorschlag, wie immer einfach nichts zu tun. Weil kannze nix machen. Weil is halt so.

Soweit bis dahin. Der Vater lässt also gerade sein Kind fliegen. Und steht oben im Nest und schaut besorgt hinterher. Und ja. Gerne. Lachen Sie ruhig, ich würde auch lachen, würde mir das irgendjemand so erzählen, aber ich habe das unterschätzt. Das Loslassen. Das Abkoppeln. Fliegenlassen. Dachte, es wäre einfacher, doch es fällt mir unerwartet schwer, dieses Kind, bei dem mir jedes seiner vielen Platzwunden körperliche Schmerzen bereitet, einfach alleine gehen zu lassen. Ich habe die Tage, an denen das passieren würde, nicht so schwer erwartet, nicht gedacht, dass mich das so mitnimmt, so ticke ich normalerweise nicht, so übermuttermäßig, so helikopteresk. Ich bin gar nicht so. Normalerweise lache ich über solche Leute.

Sonst.

Morgen ist wieder Schule. Und ich werde wieder auf dem Balkon stehen. Noch einmal winken. Kurz nicken. Und mir sagen, loslassen. Loslassen, Vater. Lass dein Kind los. Und schau dir an wie es fliegt.