
„Zu wahrer menschlicher Größe gibt es nur einen Weg – den durch die Schule des Leidens.“
Albert Einstein
Ein blödes aus irgendeiner Zitatedatenbank im Internet abgeschriebenes Mantra von Albert Einstein auf den Lippen stehe ich hungrig auf dem Vorplatz des S-Bahnhofs Schöneweide herum, mit mir ein paar verwitterte Buden, die gruselig anzuschauen sind – beginnend bei einem Obststand, bei dem ich mich frage, ob das da wirklich die diesjährige oder vielleicht doch die aufgetaute, über den Winter 1918/19 irgendwo eingefrorene Resternte ist, sich fortsetzend bei einem erbärmlichen Backwarenwagen, auf dessen süß-trockenen Auslagen sogar noch die letzten paar altersschwachen Insekten des angehenden Winters herumeiern, und endet an einem glutamatersoffenen Asiafoodwagen, von dem ich nicht einmal essen würde, wäre er der einzige Mahlzeitenproduzent im Hof eines nordkoreanischen Folterknasts. Einen Wurstwarenwagen in einem verlotterten Eck vor einem architektonisch, menschlich und aufenthaltswertig vollkommen nutzlosen Einkaufszentrum gibt es auch noch, bei dem ich mich frage, welcher Wahnsinnige hier jemals Wurst kauft. Wenn das Zeug, das dort in der Auslage vor sich hin rottet, überhaupt Wurst ist. Ehrlich, ich bin kein Vegetarier, aber…
… das Zeug dort muss wirklich nicht sein. Ja, klar, okay, bitte, hätte ich die Wahl zwischen dem Wurst genannten Unfug und so etwas ekligem wie Tofu, würde ich es vermutlich doch essen, aber die Wahl wäre knapp. Pest. Cholera. Darmkrebs. Leukämie. Dreckwurst. Tofu. Schwierig.
Ich habe heute sehr viel Zeit, gehe den immer schon räudigen Bahnhof entlang und ein Typ packt mich an. Er labert mir die Kopfhörer aus den Ohren. „Sag mal stimmt doch, dass man vom Kiffen noch mehr Kälte kriegt, stimmt doch, oder, Alter, stimmt doch?“ Ich weiß nicht was ich darauf sagen soll und sage deshalb nichts und das ist absolut in Ordnung, denn der Typ hat einen Laberflash und erzählt vom Kiffen und dessen Nebenwirkungen. Kälte. Offensichtlich. Durst. Sicherlich. Hunger. Auf jeden Fall. Und Reden. Auch als ich mich langsam entferne, redet er weiter. Erst zu einer älteren Frau mit Kopftuch, dann zu einem Straßenbahnmast, was egal ist. Es könnte auch ein Stromkasten sein. Oder sein Hund. Leute wie der haben gerne Hunde, die sich den ganzen Tag ihren Mist anhören müssen, wenn sich nicht gerade ein Passant zum Zutexten mit ihren Aphorismen zur Lebensweisheit findet. Das macht diese Stadt aus labilen Menschen. Sie macht sie neurotisch und wirr. Mit Schlagseite. Manche von ihnen fallen hin und stehen nicht mehr auf, sondern enden am Bahnhof in Schöneweide. Manche lagern die Dinge aus, machen einen Blog im Internet auf und schütten ihren Wahnsinn dort hinein, andere stehen irgendwo an einer der vielen prekären Ecken vernachlässigter Bahnhofsvorplätze in vielen Speakers Cornern und dozieren in eine maximal uninteressierte Welt, wenn auch ohne Likes.
„Fapissda, Fotzeeeee!“ brüllt einer von der Straßenecke über die Gleise in eine Dunkelheit, in der gar kein Adressat ist. Er halluziniert. Er sieht jemanden, der gar nicht da ist. Er hat nur einen Schuh an, sein rot-weißer Union-Berlin-Schal weht im Dezembereiswind, der seine Krakeelerei die achtspurige Bundesstraße zwischen die Richtung Schönefeld gestauten Autos runterweht. Fotzeeeeeen! Alles Fotzeeeeeeen! Ickhappesagt fapissdaaaaa!!!! So geht das eine Weile. Und natürlich muss das so sein. Ich bin in Schöneweide. Berlins Irre sind hier nicht nur Legion, sondern schon eine Sehenswürdigkeit, die man in die Reiseführer schreiben sollte.
Das alles hier war mal Naziland. Keine sieben Jahre her. Inzwischen ist auch Schöneweide bunt. Könnte auch Wedding sein. Asiaten, Türken, Afrikaner, alle die, die sie hier vor zehn Jahren noch durch die arischen Gassen gejagt hätten. Jetzt wirkt selbst die Bundesparteizentrale der NPD hinten Richtung Köpenick runter, die hier einst der Anker der örtlichen Glatzenparade war, wie ein verlorener Findling in einer jetzt für sie feindlichen Umgebung. Das Thema ist durch. Who the fuck is NPD. Die braucht man nicht mal mehr zu verbieten. Rechts hat längst andere Wege als Militanz gefunden, um Einfluss zu nehmen. Erfolgreichere. Die Nullerjahre sind vorbei. Das Spielfeld ist ein anderes inzwischen. Hier jagt keiner mehr wen durch irgendwelche Gassen.
Wer den Schuss nicht gehört hat, hängt in einer der letzten paar Bierbars herum, deren Krebslungengemocker sie einhüllt wie der Anachronismus, der sie sind. Da sitzen sie dann vor bunt blinkenden Spielautomaten, sehen krank aus, fett, aufgedunsen, rotgesichtig, immer noch mit nassrasiertem Schädel, aber die Stiefel brüchig, die Haut schlecht, der Wanst spannt, das billige Bier schmeckt immer noch und das sieht man inzwischen. Angst hat hier keiner mehr vor denen, diese alten fiesen Jäger von früher spielen jetzt in der Liga des Zahnlosen, der am Aufgang zur S-Bahn nach Scheiße stinkend Passanten anbrüllt und den nie auch nur einer für voll nimmt. So wie die traurigen Glatzen, die mit 40 tatsächlich immer noch Bomberjacke tragen, von der die vorbeilaufenden internationalen Millennials Anfang 20 keine Ahnung haben, was sie, die Jacke, mal darstellte. Was sie zeigen sollte. Und weswegen man besser rannte, wenn mehrere davon um die Ecke bogen. Doch das ist lange her. Jetzt ist das Game over. Naziland ist abgebrannt. Wir haben gewonnen, wenn man das so sagen kann, ja, doch, wir haben gewonnen, wenn auch spät und ganz anders als wir dachten. Schöneweide gehört jetzt uns.

Diese ganzen traurigen Buden hier um den Bahnhof herum haben eines gemeinsam: Man hat sie – sie wie sie aussehen kurz nach der Wende – in der Eile mit billigsten Spanplatten aus volkssozialistischer Produktion zusammengezimmert und danach einfach sich selber überlassen. So verwittern sie vor sich hin, dem nagenden Zahn der Jahreszeiten ausgesetzt, teilweise moosbewachsen, gammlig, fleckig, rostig, unromantisch unschön.
Einer jedoch hat die Zeichen der Zeit erkannt und das ist der Dönermann mit seinem Bistro, dessen Blechhütte seit Jahren vollsynchron zur Umgebung langsam und stetig verfiel. Er machte zu, versteckte sich hinter einer Plane und eröffnete wieder – allerdings nur halbrenoviert. Im hinteren Bereich bei den Sitzecken sowie an den Seiten war danach keine wirkliche Veränderung festzustellen, das ganze Objekt wurde nicht einmal richtig durchgeputzt – nur vorne am Drehspieß wurde in einem Anfall von willkürlicher Innovationswut eine neue Abzugsanlage angebracht, die aber clevererweise die Sicht auf die nagelneue bebilderte Preistafel dahinter hälftig verdeckt. Fail as fail can. Das Publikum hat das Bistro trotz der Renovierung wieder für sich entdeckt und wohnt das Ding wieder sukzessive runter, so dass sie sicherlich bald wieder renovieren werden.
Die übliche Schöneweider Kreisliga erwartend habe ich hier gegessen. Zwei Termine in diesem sinnlosen Ortsteil des sinnlosen Bezirks einer sowieso sinnlosen Hauptstadt haben sie mir reingedrückt. Gestern Frankfurt, heute Schöneweide, und ich frage mich, ob ich unmerklich auf der Mobbingliste gelandet bin, auf der Abschussagenda für diejenigen, die sie loswerden wollen, für jene, die jetzt die Scheißtermine irgendwo in Frankfurt an der Oder statt in Frankfurt am Main bekommen, oder in Eberswalde, Chemnitz, Görlitz, Küstrin, Naumburg. Oder eben Schöneweide. Den eigenen Reputationsverlust muss man ab der Halbzeit so eines Berufslebens in einem Blutegelbecken von Brotgeber genau im Auge behalten. Ab dann, wenn die 30 fällt und der Abstieg beginnt. Der Anfang vom Ende die ersten Signale sendet. Erst Frankfurt. Dann Köln. Irgendwann Saarbrücken. Und danach kommt nur noch Halberstadt. Jena. Finsterwalde. Oder das Jobcenter.
Jedoch hat ein Termin, zu dem ich mit dem Taxi fahren kann, statt irgendwo übernachten zu müssen, im Moment sogar sein Gutes, selbst wenn es Schöneweide und nicht Charlottenburg ist. Ich bin jetzt im Dezember des selbst für das, womit ich Geld verdiene, bemerkenswert harten Jahres müde von fremden Bahnhöfen in fremden Städten, bei deren KFC ich in den 20 Minuten des Umsteigens eine gemischte Hühnerkackplatte runterschlinge und mit Cola Zero nachspüle, bevor ich gerade so den Zug in eine andere traurige westdeutsche Stadt erwische, in der ich Dinge erzähle, die mich schon lange nicht mehr interessieren, bevor ich ein Shuttle zum Flughafen nehme, ein schlechtes belegtes Brötchen in der Hand gerade knapp genug die Bordkarte auf dem Smartphone vorzeigen kann, bevor sie das Gate zumachen, auf dass ich irgendwoanders hinfliege, in eine andere Stadt, in der ich anderen Menschen wieder andere Dinge erzähle, um mir abends in einem erbärmlichen Hotelzimmer die niedergeschlagene Stimme vom Kind anzuhören, das mir erzählt, was mitzuerleben ich versäume.
Ich bin ausgebrannt vor Flughäfen jetzt. Im Dezember. Köln/Bonn. München. Und immer wieder Frankfurt am Main. Das Gewusel. Die Krawatten. Die auf so viele Arten nervige Sicherheitsterrorparanoiafolter dümmlicher Wichser, die meine Schuhe durchleuchten und vor deren demütigenden Nackscannern ich Hampelmannbewegungen machen soll, was ich aber nicht will und deshalb ablehne, weshalb sie jedes Mal eine drei Mal so lang andauernde maximalsadistische Einzelbehandlung springen lassen, extra für mich, in einer vorhangbewehrten Kabine. In der sie mir, bevor sie mich an einer neuen Stelle meines Körpers berühren, mit einem standardisierten Satz nach Protokoll ankündigen, dass sie jetzt meinen Intimbereich untersuchen. Meine Achselhöhlen. Zwischen den Zehen. Tick Tack. Tatsch Tatsch. Immer wie auf der Flucht. Gate schließt. Gate ist jetzt woanders. Der Abflug verzögert sich um 50 Minuten. Termin verschieben. Termin canceln. Neue Termine machen. Lufthansa bedauert seine Passagiere, denn der Caterer hat verkackt und sie haben nicht mal mehr Cola im Flieger und der fette Arsch von der Deutschen Bank da drüben zwei Sitze weiter furzt in einem fort eine Hackepetermitzwiebelwolke nach der anderen in meine Richtung. Müde müde müde (müde!) bin ich oft von der Reiserei. Jetzt im Dezember nach einem Jahr des auf der Stelle herumtretens schlafe ich oft irgendwo ein. Flugzeugsitz. Hotelzimmercouch. Am Gate. Selbst beim Kindergeburtstag in einem dieser dummen Kinderkeramiktöpferbuden hängengebliebener Alnaturavetteln. In meinem Zustand zum Ende eines solchen Jahres kommt mir sogar Schöneweide recht gelegen. Sofern Schöneweide nicht zur Regel wird. Weil Schöneweide auf Dauer dann doch der Abstellbahnhof ist, bevor sie dich absägen. Woanders hinschieben. Oder einfach freistellen. Wie sie es mit allen machen, deren Zeit vorbei ist. Und dann dauert es nicht mehr lange und ich kann mich zu den alten zahnlosen Nazis in eine der Bierbars setzen und wie die mein Elend einem melodienklimpernden Spielautomaten entgegen rülpsen.
Zwei Tage bin ich hier zugange. Zwei Tage Bistro Hahn. An denen ich Dürüm und einen Döner esse. Denn es braucht Abwechslung.

Scheiße. Alles scheiße. Was ich hier esse ist natürlich scheiße. Simon says: Do not eat this crap. Der Dürum ist ganz besonders übel. Das harte zähe Fleisch vom Hackspieß ist wie erwartet geschmackneutral, dafür fettig, in Teilen zähgebraten oder nicht ganz durch, die Soßen wirken nicht nur laborkünstlich, sie schmecken auch so – die scharfe Soße ist natürlich alles andere als scharf, sondern einfach industriell-tomatig-salzig – und tragen damit ihrerseits nichts Bemerkenswertes zum Gesamterlebnis bei; der Fladen, in den sie ihren üblen Fraß einwickeln, zerstört den letzten Rest Wohlwollen komplett, in dem er an mehreren Stellen staubtrocken in seine Bestandteile zerbröselt und sich im Raum verteilt. Am Schluß liegt die ganze räudige lieblose Pseudonahrungmische auf Dürümgesteinsbrocken in der Alufolie – leider war kein Löffel zur Hand. Es hätte einen gebraucht.
Am folgenden Tag spiele ich kurz mit dem Gedanken, mal was anderes als alle anderen zu essen – Schnitzel, Calamari oder Nuggets – aber sie frittieren alles was sie finden können im selben Öl, was zwar gut für die Züchtung einer kapitalen Fettschürze ist, aber nicht fürs Gemüt. Und überhaupt mag ich nicht jetzt schon einen Magenwandurchbruch riskieren, dann lieber einen Döner. Vielleicht können sie ja den.
Können sie nicht. Das keksige Ding wird mit dem prekären Fleisch übermäßig vollgestopft, zu enthusiastisch sicher, so dass das Verhältnis Inhalt zu (Brot-)Rahmen stark aus den Fugen gerät und auch hier den Wunsch nach einem Löffel weckt, weil der ganze Scheiß irgendwann als ketchupblutiger Verkehrsunfall auf dem Teller liegt.
Geschmacklich ist der Döner über alle Maßen gruselig. Er schmeckt säuerlich und das nicht wegen der Zitrone, die sie hier gar nicht mal verwenden, um einen Versuch von Frische zu simulieren, und im Abgang muffig. Sie rülpsen den Muff noch über Stunden aus der Grube Ihres Magens hervor, quasi als Vergeltung für die ernährungsmäßige Vernichtungsattacke, die Sie gegen sich selbst geführt haben. Ich hätte hier nicht essen sollen und erst recht nicht gleich zwei Mal, aber ich lerne ja nie dazu. Ich muss ja wissen. Ich muss ja immer wissen wie die Dinge stehen. Curiosity will kill me someday.
Es ist 17:30 Uhr. Ich habe Schöneweide hinter mich gebracht. Einmal in diesem Jahr werde ich noch nach Frankfurt müssen, Main, am Main, Glastürme, seelenlose Büroschluchten voller Finanzzombies, schlechter Kaffee und gutes Koks, dann ist das Jahr rum. 2019 zu einem Ende geführt. Den Körper geschlaucht. Viel Deutschland gesehen. Viel getrunken. Gut gegessen. Und schlecht gegessen. Zisch macht das Efes und der Schaum läuft über den Tisch ein verbranntes Dönerstück mit sich nehmend zum Rand auf den Boden, dem das auch egal ist.
„Drecks Kanacken! Drecks Kanacken!“ brüllt ein Erbärmlicher vom Dönerstand aus in Richtung einiger Kopftücher an der Haltestelle der Straßenbahn. Zwei Mal ruft er seine Botschaft an die Welt. Weil einmal nicht reicht. Der letzte Rufer in der Wüste. Mit Ferrarikäppi. Er ist einer von früher. Ein Hängengebliebener. Als Michael Schuhmacher noch Weltmeister war. Und Schöneweide seine Hood.
Die Kopftücher lachen. Ignorieren ihn. Von Angst nichts zu sehen. Ich lasse den Rest Scheißdöner auf dem Kunstholztablettchen. Gehe raus in den Schöneweider Abend. Da hinten am Gleisübergang hat einer eine Asphaltpizza auf den Boden gekotzt. Nicht weit weg verkauft jemand Sushi. Tandoori Chicken. Ich wette bald wird der erste Bioladen aufmachen. Denns Biomarkt vermutlich. Die sind immer die ersten, die sehen was wo kommen wird. Dann werden die ersten Mütterchen teure Kinderwagen durch Schöneweide schieben und in den Cafés mit Vehemenz die Sojamilch einfordern. Über den Karottenkuchen twittern. Und sich über den Lärm beschweren, wenn der letzte glatzköpfige Bomberjackensäufer orientierungslos umherirrend sein Elend über die Edisonstraße brüllt.
