Berlins bizarre Behördengruft

Die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren

Dante Alighieri


Wenn das Bezirksamt Pankow die öffentlich-rechtliche Vorhölle ist, so ist die Kfz-Zulassungsstelle in Lichtenberg das ewige Fegefeuer. Ich konnte mir bisher gar nicht vorstellen, dass ich mich einmal lieber in die fürchterliche Meldestelle meines gruseligen Pankower Rathauses zurückwünsche, in der ich ausgezehrt mit einem Wartezettel in der Hand auf den Aufruf irgendeiner sechsstelligen Nummer warte, während mir die inzwischen gesprossenen Bartstoppeln jucken, die biergestählte Blase drückt und das Kind mich nervt, weil es seit Stunden nichts gegessen hat.

Und doch, bereits nach einigen Stunden Kfz-Zulassungsstelle geschieht genau dies. Ich wünsche mich überall hin. Nach Grosny, in die Wüste Gobi, in eine Höhle am Hindukusch, Darfur, Gaza-Streifen, in den Aralsee, auf den Mond (Rückseite) oder den Kometen Hyakutake, zur Bundeswehr, an die hirntötende Rekordwarteschlange der schlumpfigen Postfiliale im Mühlenbergcenter und tatsächlich sogar ins Bezirksamt Pankow, diesem menschen-, innovations- und ermüdend logikfeindlichen Beamten- und Jeglichehoffnungsgrab, überallhin, irgendwohin, nur raus aus dieser hirnfressenden Bürokratiemaschine, diesem irrwitzigen Verwaltungsgeschwür, diesem trostlosen Seelenendlager, diesem fleischgewordenen Parkinsonschen Gesetz, egal wohin, nur raus.

Die Kfz-Zulassungsstelle in Lichtenberg als Pickel am Arsch der sibirischen Plattenbauindustriegebietseinöde Richtung Marzahn pervertiert jeden ansatzweise irgendwann einmal vorhanden gewesenen Servicegedanken in der Berliner Verwaltung bis zum Exitus aller Dinge.

An einem einzigen Geschäftsvorfall sind gleich mehrere verschiedene Sachbearbeiter beteiligt, die sich gerne mal auf verschiedenen Etagen oder in einem anderen Behördentrakt befinden und zwischen denen eine Wartezeit von 20, 30 bis 50 Minuten einzuplanen ist. Zwischendrin können Sie auch mal raus an die sibirische Luft, ein überteuertes Monopolistenschildchen machen lassen und sich mit diesem Schildchen dann wieder einreihen in die lange Reihe der Wartenden. Während dieser Zeit, in der Sie Lebensqualität vom Ausmaß eines kapitalen Brandenburger Osterfeuers in den Berliner Himmel verbrennen, sitzen Sie selten auf einem Stuhl, da Sitzgelegenheiten entweder nicht vorgesehen oder von desillusionierten Dauercampern, deren Taschen und ihren Großfamilien mit Picknickkorb bewohnt werden.

So herrscht Not und Elend in allen Gesichtern: Sie sehen am Boden sitzende Normalbürger, die ihren eBook-Reader vergessen haben, mit der Mimik zu lebenslänglich verurteilter Gummizellenbewohner, andere vor den grauen Zellwänden mit dem blanken Hass im Gesicht, für den es kein Ventil gibt, brütend vor einem Wust an Formularen, andere hektisch telefonisch die Termine der nächsten Stunden oder womöglich Tage verschiebend, zuletzt welche in purer Resignation stoisch Formulare in Streifen reißend und mit dem Oberkörper hin und her wippend an irgendeiner der vielen Klagemauern dieses Hauses lehnend. Gemurmel. Gemurmel. Klappern. Unidentifizierbares Brummen. Grelles Licht. Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen), das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt, das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen, wie Backobst zum Beispiel, das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert, das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt, das Gefühl, man pisste sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann, das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: Die Zelle fährt; nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen.

Jedes Bild aus Guantanamo strahlt mehr Zuversicht aus. Und wir zahlen Geld für das hier. Jeder Gang ein Gebührenbescheid. Und dafür bekommen wir das hier. Wie konnte das passieren? Wer hat das weshalb so weit kommen lassen? Und überhaupt: Wem nutzt das Gebilde?

Ich erwarte in solchen seelenlosen Endlagern von Verwaltungshöllen immer schon bevor ich sie betrete restlos desillusioniertes, abgestumpftes oder zynisches Personal in einer ätzenden und lebensfeindlichen Reinform, die nur der öffentliche Dienst zu gebären in der Lage ist, und werde selten enttäuscht; hinter den seelengrauen Schreibtischen erfolgreich demotiviertes Personal ohne Entwicklungsperspektive (Berlin eben) trifft hier auf den klassischen Bittsteller aus wilhelminischen Zeiten. Dieser heruntergewirtschaftete Personalkörper des sinnlosen Bundeslandkörpers Berlin praktiziert Verwaltung mit einer Attitüde wie im Kaiserreich oder wie bei der EU in Brüssel – umständlich, unverständlich, ineffizient, altbacken, papierlastig, abgehoben, quälend langsam, grauenhaft verkopft – eine Strafe für jeden, der irgendetwas Behördliches mit seinem Auto anstellen muss.

Einmal glaubte ich, nachdem eines der Margot-Honecker-Doubles mit meinem Formular fertig war, einen alten Ostgrenzer aus einem Dokumentarfilm über die deutsche Teilung vom ehemaligen Übergang Helmstedt-Marienborn erkannt zu haben, aber da war ich schon wieder weiter auf dem Weg zu einem, der mit seinen herunterhängenden Mundwinkeln und seiner ausdruckslosen Mimik an einen teigigen Inquisitor vom Kreiswehrersatzamt Stendal erinnerte, der nie Tageslicht sah, während er jungen Männern gedankenverloren im Hintern rumpulte.

Berlins Verwaltung ist am Ende. Kaputtgerockt. Runtergespart. Ich glaube, das fing bei Finanzsenator Sarrazin an. Seitdem funktioniert nix mehr. Termin für den Reisepass? In zwei Monaten bitte. Trauung? Geburtsurkunde? Lichtbildausweis fürs Neugeborene? Hahaha, gehen Sie bitte kacken, Sie Bittsteller, dämlicher Untertan, wandelnde Steuernummer. In einem halben Jahr vielleicht. Und dann oben in Karow. Oder unten in Buch. Oder drüben in Zehlendorf, wenn Sie in Helle-Mitte wohnen. Und in Helle-Mitte, wenn Sie den Pass in Zehlendorf brauchen. Nochmal, hier ist Berlin, wir können nicht nur keinen Flughafen und keine S-Bahn, wir können bekanntermaßen gar nichts und jetzt können wir nicht einmal mehr diesen Moloch von Schlumpfstadt richtig verwalten. Leben Sie damit. Es muss so sein. Die bürgernahen Bereiche des Berliner Verwaltungskrebsmutanten haben keine Stellen, dafür zahllose menschengängelnde Beauftragte für alles mögliche, Arbeitsschutz, Datenschutz, Brandschutz, Korruptionsschutz, Wasweißichnochallesschutz und natürlich Frauenförderdings, von denen keiner weiß was sie den ganzen Tag machen. Und wenn sie tatsächlich mal Stellen für ihre nicht zu vermeidenden Dienstleistungen haben, dann bekommen sie keine vernünftigen Bewerbergendersternchen dafür, weil keiner von Verstand mehr dort arbeiten will, was daran liegt, dass sie hier in Berlin ihre Leute chronisch schlecht bezahlen und deshalb diejenigen, die warum auch immer einen hirntodbringenden Abschluss namens Verwaltungsbachelor erworben haben, lieber zu den quer durch die superfreshe Sexymotherfuckerhauptstadt geschissenen Bundesbehörden gehen, weil der Bund hunderte monatliche Euro mehr zahlt als jeder trostlose Bürokratenabstellraum Berlins mit dem legendär beschissenen Arbeitsklima, der Nullperspektive, der zweifelhaften Kundschaft und auf jeden Fall mit irgendwelchen parteibuchgepamperten Führungsnichtskönnern vor der Nase, die aus lauter Sadismus Arbeitsabläufe kreieren, die ihre eigene Persiflage sein könnten, würden sie diesen Kafka-im-Grab-zum-onanieren-bringenden Irrsinn nicht tatsächlich ernst meinen.

Ist der Satz fertig? Ja? Gut. Ich bin müde.

Es gibt draußen vor der Türe des Kfz-Zulassungsghuls eine ganze florierende Dienstleistungsbranche, die Ihnen gegen Entgelt die Tortur, hier den Tag verbringen zu müssen, abnimmt, das Warten vor den vielen Toren Canossas, und die Gänge von Pontius über Pilatus bis zu irgendwem, der nichts anderes tut als Ihnen einen Zettel in die Hand zu drücken, mit dem Sie wieder zu irgendeiner anderen Knastzelle müssen, in der so ein Zettel vorgelegt werden muss, damit die Dinge weitergehen. Alleine schon der Umstand des Wildwuchses einer voll ausgewachsenen Dienstleistungsbranche um so eine Behörde herum sagt alles aus, was Sie zur Zulassungsstelle meiner fantastischen Hauptstadt wissen müssen. Zahlen Sie. Ich kann nur dazu raten. Zahlen Sie. An einen der bulgarischen, polnischen oder meinetwegen tschetschenischen Anbieter, der Ihnen den Bußgang in diesem betongrauen Seelenfresser abnimmt. Das Kreuz für Sie trägt. Oder eines in den vielen Formularen für Sie macht. Zahlen Sie. Dreistellig, wenn es sein muss. Zahlen Sie und lassen Sie jemand anderes sich quälen. Egal wie viel. Und wenn Sie einen Kredit dafür aufnehmen müssen. Die Oma anbetteln müssen. Oder einen Banker ausrauben wegen mir. Bezahlen Sie jemanden, der das für Sie durchsteht. Ich werde das ab jetzt immer tun. Denn dieser Ort ist nicht die Vorhölle oder das Fegefeuer, er ist das Ende aller Dinge. Die in Beton gegossene Hoffnungslosigkeit. Ich will dort nie wieder hingehen müssen.

Aber ich bin stolz auf mich. Ich habe den Feueralarm nicht ausgelöst. Nicht den Badspiegel übers Waschbecken gelegt und dann das Wasser angestellt. Keinen Superglue in den Schlüssellöchern verteilt. Keinen Aktenstapel umgetreten. Nichts angezündet. Nicht mal auf dem Scheißhaus „Fickt euch alle“ an die Tür getaggt. Und auch niemandem einen Mülleimer über den Kopf gestülpt. Ich war kurz davor. Ehrlich. Wer diesen Ort hier durchsteht ohne am Rande des Ausrastens zu balancieren, kann kein Mensch sein. Der ist innerlich so tot wie dieser ganze Ort.