2 Cents über Freundschaft

„Verlieren Sie nie den Kontakt zu den Freunden, die Ihnen am wichtigsten sind, Bronnie. Die Menschen, die Sie so akzeptieren, wie Sie sind, und die Sie sehr gut kennen, sind am Ende mehr wert als alles andere.“

aus: Bronnie Ware – 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen


Wer kam eigentlich auf die Idee, Brötchentüten mit weisen Glückskeks-Sprüchen zu bedrucken, die Sie ohne dafür Brötchen kaufen zu müssen in Prenzlauer Berg an jeder öffentlichen Sri Chinmoy-Meditationsvettel-Plakatfläche lesen können? Egal, denn zumindest die Frage, wer den Scheiß überhaupt liest, ist beantwortet: Ich. Ich lese das.

„Wer einen Freund sucht ohne Fehler, bleibt ohne Freund.“ Ja. Schon. Der ist gut. Der ist so gut wie wahr. Sicher müssen Sie Freunde mit allen dahergelaufenen Fehlern nehmen. Weil sie Mängelexemplare sind. Wie alle. Wie ich auch. Sie dort vor Ihrem Bildschirm sind auch nicht perfekt, auch wenn Sie das möglicherweise glauben mögen. Oder auf diesen Zustand der Perfektion hinstreben. Sind Sie nicht. Werden Sie auch nicht. Niemand wird das. Alles andere ist Augenwischerei.

Zur Freundschaft gehört auch über Dinge hinweg zu sehen. Wegschauen meinetwegen. Dinge überhören. Nicht alles so ernst nehmen. Fünfe, Sechse und sicher auch Achte gerade sein lassen. Verzeihen meinetwegen, wenn Sie das evangelikale Wort mögen.

Wer das nicht macht, ist in der Tat schnell alleine. In Beziehungen und Freundschaften. Die Bäckertüte spricht da Wahres. Wir neigen zu oft dazu, uns für den Maßstab der Seligwerdung zu halten, dabei sind wir auch nur Freaks. Weitab von perfekt. Nicht besser als die anderen. Mängelexemplare eben. Wir kommen zu spät und ärgern uns, dass der andere nicht mal fünfzehn Minuten warten konnte ohne pissig zu werden, wir kommen zu früh und stehen eine halbe Stunde sinnlos rum und werden pissig, wenn der andere zu spät kommt. Wir haben Macken. Vollmeisen. Wir haben Spleens. Wir kratzen uns hinterm Ohr oder an den Eiern wenn wir nervös sind. Wir sind Vegetarier und im Restaurant oft sehr anstrengend. Wir sind Hertha-Fans. Und Union-Fans. Und streiten wegen so einem sinnlosen Scheiß wie Fußball. Wir sind Transgender. Eingetragen im Pass. Und haben seitdem kein anderes Thema mehr als die eigene Identität, mit der wir die Freunde nerven, die sich deswegen nicht von uns abgewandt haben. Wir weigern uns, Wein zu probieren, aus Angst, dass er uns vielleicht schmecken könnte. Wir essen unseren Döner nur mit Fleisch und Zwiebeln. Und sonst nichts. Nicht mal Soße. Wir finden gutes Essen überbewertet. Oder essen nur in einer von Tim Raues Gourmethütten. Wir gehen in den KitKatClub und lassen uns auf der Toilette nach dem Pissen von einem an der Tür angeleinten Devoti einen blasen. Wir haben auch 2019 noch kein Smartphone, nicht mal ein altes Tastenhandy, weil wir paranoid sind, und können deswegen von unterwegs keine Termine absagen. Wir werden besoffen sehr peinlich. Stehen hackedicht, schwankend und in einem albernen Kostüm am Einlass der Kalkscheune und wundern uns, dass wir nicht reinkommen. In die bräsige Kalkscheune! In die sie die alten Ü40-Schabracken sogar mit Birkenstockpantoffeln reinlassen. Wir singen im Rausch aus offenen Autofenstern Fußballparolen und garantiert unkorrekte Lieder, auf dass den zipfelmützigen Prenzlauer Berg-Hausmütterchen die Ohren klingeln. Wir schlafen in der Ringbahn ein und fahren stundenlang im Kreis. Oder im Nachtbus und wachen um 4 an der Endhaltestelle irgendwo in Französisch-Buchholz auf. Wir daten eine Internetbekanntschaft nach der anderen und wollen die dritte plötzlich heiraten. Und tun das auch. Wir haben einer flüchtigen Bekanntschaft ein Kind gemacht. Und dann noch eines. Weil wir gerade dabei waren. Wenn wir die Schnauze von irgendwas voll haben, gehen wir gerne mal wort- und grußlos einfach weg. Laufen durch den Regen. Musik im Ohr. Bierpulle in der Hand. Wir feiern auf dem Schlagerboot zu Tegel dümmliche Schlagermusik. Noch schlimmer: In der 90er-Party im Velodrom tanzen wir zu Mambo No. 5. Und wir tanzen zu Udo Jürgens einen ungelenken Walzer und singen schief „Ich war noch niemals in New York“. Wir werden betrunken sehr anhänglich und verteilen Küsse. Liebesschwüre. Fordern Blutsbruderschaften ein. Wir trinken kalte Lachssoße aus einem daherstehenden Kübel, weil wir das Zeug im Rausch für Margerita halten. Wir können ums Verrecken nicht verlieren und wollen ein Spiel so lange neu spielen bis wir endlich mal gewinnen. Wir beschweren uns lautstark über unsere beschissenen Jobs, aber wir ändern nie etwas daran. Wir laufen mit 35 immer noch mit einer viel zu jugendlichen Strubbeltarkanfrisur rum. Wir bekommen Tourette, wenn wir besoffen sind, und sagen immer nur „Scheißescheißefickenarschlochfotze“. Wir feiern immer noch Himmelfahrt mit Bier, Havanna und Cola – in aller Öffentlichkeit als wären wir noch 15. Wir fressen uns nach wie vor besoffen durch die immer dämlicher werdende Grüne Woche. Wir melden uns für einen 10-Kilometer-Lauf an und sagen dann einen Tag vorher ab. Wir melden uns für den Halbmarathon an und sagen eine Stunde vorher ab. Wir haben sowieso ganz oft eine große Fresse und da ist noch öfter nicht ein Jota hinter. Wir sind Freaks. Bekloppte. Vollidioten. Halbschwule Heterosimulanten. Säufer. Koksnasen. Dauerkiffer. Ein Haufen Gestörte. Normal ist anderswo. Normal will keiner haben. Normal ist das Allerletzte. Und fick ganz einfach die Langweiler.

Wir sind die Geilsten. Ihr seid die Geilsten. Ich möchte keine anderen Freunde haben. Jeder von euch, der geht, reißt ein Loch.


Für C.