Kein Stück hat sich getan

Das Gras wächst nicht schneller
wenn man daran zieht
Aus einem Glückskeks vom Asia Imbiss in der Brunnenstraße


Ich sitze im Offside im Wedding und warte auf einen, der wie immer eine Stunde zu spät kommt, was im Offside kein Problem ist, denn sie haben dort Alkohol. Und wenn ich den trinke, habe ich den Eindruck, dass ich die Dinge durchschaue. Oft täuscht das, aber das macht nix. Hauptsache ich bin glücklich dabei.

Ich war kürzlich in Stuttgart gewesen, dort saß ich auch am Tresen und habe vor mich hin sinniert, wie heute. Es war exakt der Tresen, an dem ich vor 15 Jahren schon einmal saß. Ich bin nur deshalb wieder absichtlich dort hingegangen, weil ich ein sentimentaler Stricher bin und gerne Orte besuche, mit denen ich Wegmarken meines nutzlosen Wirkens auf diesem komischen Erdklumpen verbinde. Damals neben mir saßen zwei von der lokalen Antifa. Das Gespräch dreht sich fast die ganze Nacht um die Gaspistole, die ich damals fast immer bei mir trug. Gewalt. Gegengewalt. Eskalation. Provokation. Ich gab zu Protokoll, dass ich sie für den Fall mitführe, dass ich Nazis begegnete, was mir an den drei Tagen in Stuttgart nicht, aber wenig später in Halle-Neustadt und dann noch einmal in Berlin-Hellersdorf passierte. Die beiden Gaspistolenablehner fanden das damals nicht gut, ich natürlich schon. Wegen Cowboy. Wumm. Schneller als sein Schatten. Weil Gegengewalt und so. Mehr auf Tasche haben als die. Immer eine Nummer mehr. Natürlich hatten die Beiden Recht und ich habe mal wieder ein paar Dinge nicht zuende gedacht. Ich selber habe das Teil nicht einmal abgefeuert, sondern nur einmal ein Besoffener in meiner Wohnung aus Spaß mit den Worten „Öhm, ist die geladen?“ Peng. Trän. Ja, du Affe, sie ist geladen, war sie immer, deswegen müssen wir jetzt alle mit geschwollen Augen in den Hof rennen, du Spast.

Ich habe die Gaspistole irgendwann einfach weggeworfen. Irgendwo im Restmüllbeutel unten unerkannt eingewickelt verklappt. Sie war überflüssig. Nutzlos. Sinnlos. Immer gewesen. Es war nur Angeberei. Und ich viel zu jung.

Ich bin ein ganz großer Tresensinnierer geworden, der über solche Dinge sinniert, Heißblut, Ungeduld, wie die Dinge gekommen sind wie sie sind, Wegkreuzungen, Abzweige, Entscheidungen, der über Fragen sinniert wie die, warum ich irgendwohin nach Westdeutschland muss und den Tanzbär für komische Leute mimen darf, nachdem sich die beiden Frauen, die für das Projekt verantwortlich sind, mit dem Hinweis auf irgendwelche familiären Dinge für unmöglich die Reise vorzunehmen erklärt haben, so dass ich es wieder tat. Fremde Federn. Reden über Dinge, die gar nicht meine sind, Dinge zeigen, Dinge erklären, Bullshitphrasen trommelrühren. Und danach noch stundenlang mit irgendwelchen Hampelmännern und Quasselfrauen stupide netzwerken, um abends im Hotelzimmer mit Alkohol und ein wenig Gras unruhig einzuschlafen.

Und immer dieses gewinnerstrahlend lächeln.

Ich nehme das alles hin, ich stecke das ein, ich ziehe das durch, es ist mir alles egal geworden wie mir so vieles immer egaler wird, desto mehr ich mich der Halbzeit des gesamten Auftritts hier nähere. Ich bin maximal ein Roboter. Hey Roboter, fahr da hin und rede. Und der Roboter redet. Ja tvoi sluga. Ja tvoi rabotnik.

Ich habe gelernt. Ich war früher viel aufgeregter über zu vieles, habe versucht, Dinge zu erzwingen, Ungerechtigkeiten sofort zu bekämpfen, habe aufgesteckt, wenn sie nicht beim ersten Versuch geklappt haben, habe wieder aufgesteckt, und wieder aufgesteckt, und noch einmal, bis ich irgendwann sogar vor lauter Kampf, Konfrontation und festgefahrenen Konflikten mit allen und jedem aus meiner Wohnung geflogen bin und dann Leuten so lange auf den Sack gegangen bin, bis sie mich bei ihnen ein paar Tage haben wohnen lassen. Dann zum nächsten. Wieder zum nächsten. Dann ein paar Nächte unter einem Bauwagen, eine Woche in der Fettecke in der Neuen Grünstraße. Dann mal am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park. Dann wieder zusammengerissen, die Angelegenheiten sortiert, Strukturen repariert. Was aufgebaut. Gelassen geblieben, auch wenn es immer wieder welche gab, die mir das bisschen Gebaute wieder kaputt reden wollten. Ich habe gemauert. Linie für Linie. Stück für Stück. Ziegel für Ziegel. Backstein um Backstein. Jetzt bin ich hier.

Ich bin auch Ausbilder. Wenn ich heute jene der Generation, der ich Dinge beibringen soll, sehe, wie schwer sie es sich machen, dann möchte ich sagen: Bleib locker, sortiere dich, beobachte, baue sukzessive, alles regelt sich irgendwie. Was natürlich vermessen ist, denn wer bin ich denn, dass ich ihnen den Weg zeige, ist es doch nicht weit her geholt, dass ich mit der Methode, mit der ich den Unrat, der mein Leben war, bereinigt habe, einfach nur Glück hatte zuletzt, schlichtes schnödes Glück, vielleicht bin ich nur der lausige Prozentsatz, bei dem sich trotz Unvermögens alles gefügt hat, und ich tauge am Ende gar nicht zum Rezept für andere.

Ich versuche, Ruhe zu vermitteln, ich erzähle jungen hektischen Berufsstartern Versatzstücke wie: Das läuft schon, alles wird gut, irgendwie läuft immer alles. Lassen Sie laufen. Bauen Sie ein wasserdichtes Schiffchen, setzen es ins Wasser und dann warten Sie was passiert. Bleiben Sie entspannt. Greifen Sie nicht in jede Welle ein, lassen Sie auch mal treiben.

Bla.

Gelaber.

Ich würde auch nicht auf mich hören. Und ich hätte es ganz sicher nicht getan, hätte für mich jemand einen dieser Sprüche aus einem Glückkeks referiert.

Was ich sehe, ist sehr viel Eifer. Junge Berufsanfänger sind immer hektisch. Und ängstlich dabei und deswegen zu nassforsch. Zu viel Angst trifft zu viel Ungeduld trifft Fahrigkeit trifft Nassforschheit trifft irgendjemanden, der diese jungen Leute zum Frühstück aufs Brot schmiert und auffrisst.

Das zu sagen ist unfassbar einfach, vermessen und irgendwie eklig saturiert aus meiner heutigen Perspektive. Das ist mir voll klar. Meine größten Kämpfe liegen hinter mir, ich habe damals auch die verstörende, fast schon provozierende Gelassenheit manch Älterer nicht verstanden, die mir immer gesagt haben: Entspann dich, mach dich locker, alles wird gut. Ich sah das nicht ein. Ich empfand das als Provokation. Und bin mit noch mehr Anstrengung gegen immergleiche Mauern gerannt.

Heute bin ich der, der doch noch begriffen hat, dass er mit Ruhe weiter kommt, dass er auch mal ein Schiffchen ins Wasser setzen und warten muss, dass überbordende Hektik manchmal, oft sogar, nichts bringt, sondern man auch einmal jemanden aus der Reserve locken muss. Mit Zeit. Mit Warten. Und wenn die Zeit da ist, den Sack zumachen. Der auch mal nach Stuttgart fahren muss, um Dinge zu verkaufen, die gar nicht seine sind, nur weil jene, deren Dinge das sind, sich rausziehen. Sich nicht vorne hinstellen mögen. Es anderen überlassen, ihr Gesicht dafür zu geben. Möglich, dass sich das auszahlt. Jedenfalls mehr als sich spontan über sich aus der Affäre Ziehende aufzuregen.

Ich verstehe das ja. Ich wollte auch immer alles, ich wollte es immer sofort, ich habe gedacht, dass auf mich die Welt gewartet hat und ich jetzt alles revolutioniere, die Arbeitsabläufe, die Pfeifen über mir, die Klüngel, die Seilschaften, meine ganze kleine Welt. Ich dachte wirklich, hey, auf mich hat die Welt gewartet. Ich mache das hier alles neu.

Nein.

Tat ich nicht.

Kein Stück habe ich verändert. Nichts erreicht. Nix hat sich getan. Außer dass ich für Geld, von dem ich ein Kind gut versorgt großziehen kann, eine Projekthure in den uralten Strukturen geworden bin, die sich nur immer wieder als neu verkaufen. Und alles Zeug, das es damals schon gab und das ich zum Wegrennen und nebenher Kotzen fand, alles das gibt es heute immer noch, in immer neuen Konstellationen. Nichts ist weggegangen und es sieht so aus, als würde nichts davon je weg gehen. Es wird immer Klüngel geben, immer Seilschaften, alte Studienkollegen, Zivildienstkameraden, Männerseilschaften und seit neuestem auch welche mit Frauen, es hat Klüngel in allen Gesellschaften gegeben, auch in denen, die sich für gerecht hielten, es gibt sie in allen Schichten, allen Ebenen, von der Vorstandsriege unseres fantastischen Arbeitsplatzes über den Kleintierzüchterverein bis zu den Kassenaufsehern bei Aldi. Alle klüngeln immer irgendwie. Dem Nachbarn schanzt man was zu, der Familie sowieso und wenn der Saufkumpel mir einen Gefallen spendiert, bekommt er das nächste Mal einen von mir. So ist das. So läuft das. Ich weiß das. Ich mach‘ ja mit. Denn mit Lautstärke oder revolutionärem Pathos kommen Sie gegen jahrtausende alte Strukturen wie diese nicht an, was bleibt ist maximal die Entwicklung der Fertigkeit, Dinge, die Sie nicht ändern können, in der eigenen kleinen Froschperspektive zu nutzen. Mehr wird da nicht kommen. Und natürlich ist das sehr schade.

Aber erzählen Sie das mal Jüngeren. Hektik. Panik. Attacke. Parade. Sturm. Drang. Und dann die Mauer.

Immer wieder die Mauer.

Peng.

So lange bis sie es lernen. Denn sie hören ja nicht auf mich. Das ist okay. Ich habe auch nicht gehört. So ist der Lauf der Dinge: Sie hören nicht und irgendwann ist die Beule an der Stirn groß genug, dass auch sie sich überlegen, ob es nicht irgendwie anders gehen könnte. Und dann probieren sie es anders. Machen Konzessionen. Schmerzhafte Kompromisse. Beginnen Widersprüche auszuhalten. Oder bleiben vor der Mauer liegen und saufen ab.