
Oh scheiße.
Scheiße.
Da vorne läuft Herr Müller.
Herr Müller ist schlimm. Herr Müller nimmt immer genau zu meiner Zeit am Morgen meinen Weg von der S-Bahn zum Borgwürfel, unserem gemeinsamen Heißluftgebläseaquarium von crappy Arbeitsplatz, in dem wir Guppys acht, neun, zehn Stunden dümmlich durch die Gegend schwimmen, nach ein paar Fischfutterkrumen schnappen und ansonsten darauf warten bis wir dicker werden. Oder sterben. Oder jemand uns aus dem Aquarium holt und in ein anderes Aquarium setzt. Oder isst, keine Ahnung.
Herr Müller labert, wenn er mich sieht. Herr Müller labert jeden zu, den er sieht. Bla bla. Ich kann Herrn Müller nicht leiden. Ein Labersack. Vor ein paar Jahren hat Herr Müller mal ein dickes Projekt gewuppt. Ein paar Ideen gehabt. Die er von anderen hat umsetzen lassen. Praktikanten. Dummen Kackstudenten, die Herrn Müller geglaubt haben, es spränge eine Festanstellung dabei raus. Was nicht stimmt. Was nie stimmt. Aber egal ist. Denn die Praktikanten von damals sind weg und Herr Müller ist immer noch da. Aufgestiegen. Eine Stufe. Zwei Stufen. Und eine dritte. Protegiert wie man so sagt. Typen wie Herr Müller werden bei uns was. Herr Müller ist ein Gebläse. Ein Heißluftgebläse.
Von dieser Nummer damals erzählt Herr Müller gern. Von seinen fünfzehn Minuten. Seinem großen Wurf. Dem dicken Projekt. Der Präsentation vor dem Board. Vorstand. Geldgeber. Claqueure. Was alles auch gut lief, weil die Praktikanten die Wochenenden vorher alle durchgemacht haben, die Praktikanten, die es heute nicht mehr gibt, weil die Siemens abgegriffen hat, die Guten, oder Bayer drüber in Wedding, die Mittelguten, oder den Rest sogar die Commerzbank Flagshipfiliale am Kudamm, weil es sogar dort besser ist als bei uns, während wir so Typen wie Herrn Müller haben, den Luftschaufler. Das Gebläse. Den Schnacker. Er trägt Bommelslipper.
Echt jetzt.
Bommelslipper.
Mit Bommeln.
An den Slippern.
Ich weiß inzwischen, welche S-Bahn Herr Müller nimmt. Wann er am Ostkreuz Richtung Mitte umsteigt. Welchen Wagen er ab Ostkreuz wählt. Hinten. Weil er dann Zeit beim Laufweg zum Borgwürfel spart. Denn der Borgwürfel liegt zum hinteren Ausgang des Bahnhofs hin. Herr Müller hat das alles berechnet. Herr Müller ist effizient. So einer ist er. Es sind die kleinen Dinge, die den Gewinner ausmachen.
Ich weiß, dass Herr Müller am S-Bahnhof Storkower einsteigt. Es liegt nahe, dass er in einem dieser nagelneuen schneeweißen Schachbrettstyletownhäuser wohnt, jene mit den 3 auf 2 Metern Vorgartenparzelle und den 2 auf 3 Metern Parkplatz direkt vor der Haustüre. Der mit Rasengittersteinen gepflastert ist. Und rechts und links von Betonkübeln gesäumt wird, in die pflegeleichte Buchsbaumbüsche gepflanzt wurden. Neben dem dummen gußeisenernen Standbriefkasten, den er günstig drüben bei Toom geschossen hat. Ja. Das würde zu jemandem wie Herrn Müller passen. Ein Townhaus. Die Optikpest, der Architekturkrebs, mit dem sie Berlin zukoten. Herr Müller ist ein Townhaustyp. Für Typen wie Herrn Müller bauen sie diese Dinger.
Inzwischen weiß ich wie ich ihn vermeide. Denn wenn er mich erwischt, labert er mich ins Halbkoma bis ich endlich zum Kaffeeautomaten abbiege. Erst dann werde ich ihn los. Weil Herr Müller mir ganz stolz erzählt, dass er keinen Kaffee mehr trinkt. Weil Kaffee ungesund ist. Lieber grünen Tee. Den aber auf jeden Fall nur drei Minuten ziehen lassen, sonst wird er bitter. Bla-ha. Das erspare ich mir alles ab sofort, weil ich jetzt weiß, wie es geht, wie ich den morgendlichen Herrn Müller vermeide, ich steige in den hinteren Wagen der S-Bahn ein, dann sehe ich durch das Wagenfenster, dass er Storkower in den mittleren Wagen einsteigt, damit er genau an der Treppe zur S-Bahn Richtung Stadt aussteigen kann. Beim Umsteigen am Ostkreuz muss ich vorsichtig sein, ein Schulterblick und er hat mich lokalisiert und ich darf mir bis zum Abzweig Richtung Kaffeeautomaten sinnlosen Scheißmüll anhören, entweder über seine beruflichen, schon ein paar Jahre alten Erfolge oder – sehr viel schlimmer – private Scheiße über seine verzogene in die Welt geschissene Townhausbrut. Annika. Und Melina. Zwei sicherlich schon mit 10 und 12 Jahren blasierte Schnepfen, die sich irgendwann mal vor Gericht darüber vergleichen werden, wer das ranzig gewordene Reihentownhaus von Herrn Müller erben wird, wenn dem vor Stolz über sein Uraltprojekt endlich die Aorta geplatzt ist.
Da läuft er.
Ich bin wieder ein Wagen hinter ihm.
Dudumm.
Wir steigen um.
Dann steigen wir aus.
Ich verlangsame.
Da hinten gläsert schon der Borgwürfel.
Herr Müller schaut nach rechts.
Links.
Dann zurück.
Sieht mich.
Herr Zimmermann!
Hier! Hallo!
Herr Zimmermann!
Blep Blep. You’ve lost. Ich muss die Kopfhörer rausnehmen. Pro-Pain raus aus dem Ohr. Herr Müller rein.
Sagen Sie.
Sagt er.
Was meinen Sie. Das war ja ein Ding gestern. Ein Ding! Die Videokonferenz! Die Greulich aus Frankfurt. Das Projekt. Ob die das hinkriegen. Ich hab‘ das ja damals… Bla. Blörb. Gnagna. Während ich nichts verstehe, weil ich nicht zuhöre, wenn Herr Müller von sich selbst redet, von früher, von irgendwann, irgendwas, scheißegal, weil ich habe verloren, ich habe nicht weit genug Abstand gehalten und deshalb hat er mich erwischt, gesehen, lokalisiert, fixiert und eingewickelt wie die Spinne eine Scheißhausfliege und textet mich zu und es ist meine eigene Schuld.
Morgen schon werde ich daraus lernen. Zwei Wagen Abstand. Alibi-Croissant bei LeCrobag. Bringt Zeit. Und Raum. Dann die Bahn zum Ostbahnhof. Wieder zwei Wagen Abstand. Langsam gehen. Immer langsamer als Herr Müller. Um ihn zu vermeiden. Den Herrn Müller.
Um endlich Herrn Müller zu vermeiden.