
Ich muss heute in Heilbronn sein. Kundenkontaktkümmern. Es sind Leute mit Geld. Ich muss da immer hinreisen in solche komischen Städte, um mich und meinen sexiest Arbeitgeber alive möglichst wichtig und fürsorglich erscheinen zu lassen. So wichtig und fürsorglich, dass Leute mit Geld uns dieses Geld hinterher werfen. Und damit sie das tun, müssen sie hofiert werden, für voll genommen, unterhalten, angehört, ergo: Sie müssen besucht werden. Auch in diesem Heilbronn.
Wenn die Leute mit Geld wüssten, was für Dilettanten wir eigentlich sind und wie unprofessionell, ungeordnet und über alle Maßen wurstig die Dinge hinter den verglasten Fassaden unseres Berlin-Mitte-Glasprotzwürfels ablaufen, wären wir in Monatsfrist pleite. Aber das wissen sie nicht, denn wir sind zwar die allerletzten Schlümpfe, können aber sehr erfolgreich so tun als wären wir keine. We are the masters of nothing.
Heilbronn ist so schmerzhaft hässlich, dass ich kaum hinschauen mag. Vermutlich wurde es im zweiten Weltkrieg von Bomber Joe und Bomber Jack komplett eingeebnet und nach der Kapitulation der Verlierer gruselig sichtbetonartig wieder aufgebaut. Und weil der Shit aus den 60ern nicht reicht, um komplett blind zu werden, setzen sie jetzt überall wo sie es können seelenlose graue Glasbetonbunker hin, um diese Stadt noch ein wenig grottiger als sowieso schon zu machen. Glas. Beton. Stahl. Rechte Winkel. Glatte Flächen. Wenn irgendwann in tausend Jahren mal jemand bei Ausgrabungen Reste dieser fürchterlichen Zehnerjahrearchitektur findet, wird er sich fragen, wie man das zulassen konnte. Ob wir kein Bauamt hatten. Oder wenigstens beherzte Menschen mit Geschmack, die so ein Ding gleich nach dem Richtfest wieder eingerissen haben. Oder gesprengt. Wegen Hässlichkeit.
Der Taxifahrer, der mich zum Hotel fährt, weiß viel über die Immobilienentwicklung Heilbronns und teilt mir das alles mit. Die Situation sei eine ungute Mischung aus saisonalen Werksarbeitern mit Werkswohnungen und jungen freshen Studenten mit Studentenbutzen, die Heilbronn immer voller machen, was dazu führt, dass es kaum noch brauchbare Mietwohnungen unter monatlichen 1.000 € gibt. Glückwunsch. Hässlich und teuer, ich dachte bisher, das schafft nur Berlin, doch nein, das schafft auch Heilbronn.

Da ich den Termin zum gemeinsamen Wichtigtun, gegenseitigen Entlausen und hemmungslosen Aufplustern am nächsten Tag viel zu früh am Morgen haben werde, reise ich am Vorabend an und bin gezwungen, mir hier in Heilbronn die Zeit zu vertreiben. Ich strande nach einem viel zu langen Spaziergang durch die Betonödnis der Innenstadt an einem Ort, an dem es gutes Bier gibt, vermutlich der einzige hier, und verstehe die Dinge wieder einmal nicht, denn ich sitze alleine dort, bin der – wirklich – einzige Gast an einem Wochentagabend und es herrscht um mich herum eine diffuse und schwer einzuordnende Hektik beim Personal. Drei Servicekräfte rennen wie auf Koks im Gastraum und im Außenbereich herum und tun widersprüchliche Dinge. Bierseidel hin. Besteck weg. Karte hin. Bierseidel weg. Besteck hin. Es ist irritierend, welche Hektik ich hier als einziger Gast fabriziere, denke ich mir, denn sie haben kaum Zeit für meine Bestellung, sie sind abgehetzt, atemlos, burnoutesk, nur für wen? Wen bitte? Mich etwa? Oder kommt da noch wer? Ich versuche die Abläufe und deren Sinn zu erfassen, doch es gelingt mir nicht.
Dann kehrt eine zufriedene Ruhe ein und die den Zenit ihrer Attraktivität gerade überschritten habende Servicefrau beginnt einen Flirt. In letzter Zeit unternehmen immer öfter Frauen Mitte bis Ende 30 aus dem Nichts die ersten Kontaktversuche. Das ist neu und macht mich, wie immer wenn sich mir jemand zugeneigt nähert, höchst misstrauisch, deshalb versuche ich, mich auf das Schnitzel zu konzentrieren, das vor mir liegt. Nein, keine Frauen. Erst recht keine in diesem Kinderkurzvorzapfenstreichalter. Und schon gar nicht auf Reisen. Das gibt nur Ärger. Zu oft dieses Klammern. Und die unvermeidlichen Nachfragen. Wann sehen wir uns? Wenn ich nach Berlin ziehe, kann ich bei dir wohnen? Oder ziehst du besser gleich zu mir in mein süßes Provinznest voller Hühner, Eber und Gänse? So funktioniere ich nicht. Ich bin ein großer Freund des Abstands. Freundlich sein. Distanz wahren. Hinfahren. In die Dusche wichsen. Arbeiten. Nochmal in die Dusche wichsen. Wegfahren. Im Zug ein Bier bestellen. Dies trinken. Vielleicht noch eines bestellen. Heimkommen. Und nicht noch ein Kind gemacht haben.
Die Reisebuchungsschlümpfe vom Borgwürfel, meines göttergleichen Ponyhofs von Arbeitsplatz, haben mich wieder sadistenlike abenteuerlich in ein Hotel eingebucht. Was für ein räudiges Loch. Es hat diese orange-grün-cremeoptischen Armaturen aus den 80ern und ein Zimmertürschloss mit einem uralten Bartschlüssel, was ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. Der Vorteil: Ich muss nie zur Rezeption und die Schlüsselkarte neu programmieren lassen, weil ich sie wieder mit dem Smartphone gemeinsam in der Hand gehalten habe, was die Codierung löscht – eine Tatsache, um die ich weiß und die ich doch immer wieder vergesse.
Mein Klo ist ein Podestklo. Cremefarben. Auf solchen Podestklos können Sie Ihren dampfenden Scheißhaufen noch einmal in seiner ganzen Pracht bewundern, bevor Sie ihn in der Heilbronner Kanalisation versenken. One. Two. Disco. Ich habe schon viele Jahre kein Podestklo mehr gesehen. Na bitte. Hat sich Heilbronn doch noch gelohnt.
Ein Schild im Aufgang zu den Zimmern weist mich an, die Treppe nicht mit Bauarbeiterschuhen zu betreten. Ich hatte das nicht vor und frage mich, was aus der guten alten Aufforderung zum Schuhe abtreten geworden ist. Denn immerhin bedeutet das Schild, dass der Zugang mit nagelneuen Bauarbeiterschuhen, die gar nix dreckig machen können, untersagt, aber mit verdreckten Punkrockkampfstiefeln erlaubt ist. Und das verstehe ich nicht. Geht es um Lärmschutz? Und wenn ja, wo ist dann der Unterschied zu Stilettos? Oder den lächerlichen Cowboystiefeln von dem Grafikdesigner, der es irgendwie in meinen Freundeskreis geschafft hat, obwohl ich Grafikdesigner furchtbar finde und ablehne. Und zwar alle.
Beim Frühstück sitzen drei schwäbische Handwerker neben mir und unterhalten sich engagiert über Handwerkerdinge. Morgens um halb sieben. Sie diskutieren energisch, wie sie die Dinge besser machen können. Das Werk möglichst akkurat herstellen können. Einzelheiten. Äußerst angeregt. Ich käme um die Uhrzeit während des ersten Kaffees nicht auf die Idee, mir Gedanken um meine geistesgestörte Powerpointpräsentation zu machen, die ich in zwei Stunden beginnen werde. Das Gedankenmachen wird früh genug kommen, wenn der Laptop nicht hochfährt oder ich merke, dass ich das HDMI-Kabel für den Projektor vergessen habe. Oder wenn mir klar wird, dass ich aus Versehen die Präsentation von der Genderschnepfe aus dem Nachbarbüro auf den Stick kopiert habe und meine nicht.
Ich muss auch unbedingt daran denken, mir vor dem Vortrag auf dem Klo des seelenlosen Bürokomplexes, der mich eingeladen hat, noch einen runter zu holen. Das lässt mich während der Präsentation friedlicher und allgemein weniger ruhelos wirken. Ich kann dann visionär vor mich hin philosophieren, ohne daran denken zu müssen, zu welcher Kinokopfblähung ich mir später in der nach Pisse stinkenden Zugtoilette des ICE von Mannheim nach Berlin einen runterholen werde.

Der Vodafoneshop auf der Heilbronner Allee blamiert sich mit einer fehlenden Vodafone-DSL-Verbindung. Filet-o-Fail. Ich mag so etwas. Das sind nicht mal mehr Eigentore, das sind schon autoerotische Selbststrangulierungen. Hallo Herr Kommissar, wir haben eine Leiche. Es ist Vodafone. Jemand hat das Netz abgeschnitten. Okay. Ist die Spurensicherung durch?
Schwaden von Cannabis wehen durch Heilbronn. Überall sitzen Leute und kiffen sich Heilbronn schön, so dass ich mich sofort zuhause fühle. An die Nixblicker aus dem Raumschiff Berlin-Mitte: Jetzt legalisiert das Zeug doch endlich, es wird sowieso konsumiert wie Hulle und niemand verfolgt das mehr ernsthaft, nicht mal in Baden-Württemberg, nicht mal in so einer freudlosen Stadt wie Heilbronn.
Sie haben in Heilbronn ein journalistisches Produkt namens Heilbronner Stimme, das natürlich in einem schmucklosen 60er-Jahre-Sichtbetonbunker residiert. Sie bieten mir an, sie zu testen und ich mag nicht, weil der Journalismus 2019 mir zu traurig ist und ich schon depressiv genug bin.
Die Heilbronner Stimme bietet in ihrem Schaufenster Bücher zu gesunden Gelenken an. Und für den Darm in Balance. Und wie ich aktiv mit Schüsslersalzen bleibe. Journalismus 2019. Entweder eifernder Haltungsmissionar oder traurige Esoteriknutte. Kann man den Scheiß eigentlich noch studieren? Journalismus? Ernsthaft? Und wer macht das noch?
Gegessen habe ich in einer Franchisebutze namens Asiahung. Selten sah ich so viel Abstand zwischen den bebilderten Anpreisungen auf der Leuchtetafel und dem schmierigen Ranz, den sie mir aus dem Eimer innerhalb von einer halben Minute warmgehalten auf den Teller kippten. Uargh. Ein übler Scheiß. Fieseste lieblose Coveniencesystemgastronomiehölle. So geht man mit Essen einfach nicht um. Leider habe ich kein Sodbrennen davon bekommen. Es hätte gepasst wie selten.
Abends will ein besonders eifriger Netzwerker, es ist einer aus der dritten Reihe, der im Moment den Entscheidern hier in Heilbronn nur die Kalkulationsunterlagen zuträgt, mit mir ein Bier trinken. Er ist einer von diesen öden geistlosen Telefonnummernsammlern, die noch Monate später auf der Suche nach Gelegenheiten auf Büsche klopfen und mir und 3.000 anderen armen Irren, die mit ihnen irgendwann mal in Kontakt kamen, auf den Sack gehen werden. Ich hasse das, viel lieber würde ich alleine durch Heilbronn streifen, um Dinge zu finden, die ich verachte. Stattdessen habe ich nur ihn, den ich verachten kann. Den emsigen Netzwerkerolm im Konfirmandenanzug, der mit mir netzwerken will. Also verbringe ich zwei Stunden damit, mir sein atemloses Geseiere anzuhören und verabschiede mich, bevor er mir eine Stadtführung durch Heilbronn ans Revers nötigen kann, arbeitvorschützend ins Hotel.

Das war Heilbronn. Mehr war echt nicht.