
(2001)
Am Kino in den Hackeschen Höfen hängen meine Erinnerungen.
Ich erinnere mich, dass ich irgendwann kurz nach dem Millennium an einem miserablen Abend eines völlig missratenen Tages dort in diesem kleinen Kino in die fabelhafte Welt der Amélie eingetaucht bin, mich in Audrey Tautou verliebt und den ganzen verkackten Tag danach irgendwo am Rosenthaler Platz in einer Flasche Whisky versenkt habe. Die Dinge um mich herum brachen zu der Zeit gerade zusammen. Meine Frau hat meinen besten Freund gefickt und als ich arbeiten war meine Wohnung ausgeräumt. Ich saß in einer bis auf einen zerbrochenen Röhrenmonitor leeren Wohnung auf einem Stapel voller Schulden und habe mit der Bankkarte die letzten 50 Mark abgehoben, die ich in einer Kinokarte, der Flasche Whisky und zwei Schachteln Zigaretten versenkt habe. Es war mein Geburtstag.
Ich bin danach immer wieder hier an diesem Ort gelandet, wenn ich meine Ruhe haben und dabei irgendeinen Nischenfilm schauen wollte, den sonst in Berlin kaum einer zeigt, einen dieser Filme, bei denen ich alleine oder mit zwei anderen Irren im Saal sitze, die sich Filme eintun, die in ein paar Jahren nach Mitternacht auf Arte laufen oder Sonntagmorgens als Lückenfüller in einem süddeutschen dritten Programm oder bei Radio Bremen versendet werden.
Nix Blockbuster.
Nix George Clooney.
Nix Peng Peng.
Nix Boom.
Nix Glop.
Nur Konzeptarbeiten eines schwulen einarmigen bengalischen Chemielaboranten auf Super 8 über das Leben einer alleinerziehenden Oma aus Bydgoszcz, ein eitles Portrait über Joschka Fischer oder ein uneitles über die Band Joy Division, die keine Sau mehr kennt, ein Dokumentarfilm über den Alltag eines Gemüsehändlers in der spanischen Exklave Ceuta, Experimente, Minderheitenkultur, Förderfilme, Preisträger der goldenen Heizspirale des Oberbürgermeisters der Stadt Greifswald. Solche Filme. Filme für Nischenpublikum. Filme zum Abtauchen. Zum mal was anderes machen. Was anderes sehen. Mal sagen „Schatz, ich gehe heute mal ins Kino.“ „Oh, Men in Black 5?“ „Nein, ein exilchinesischer Film über Ai Weiwei im Kontext zu Maos Kulturrevolution – Original mit Untertiteln, ich brauche das heute.“ „Oh. Ist es schlimm, wenn du da alleine hingehst?“
So ist das und es ist gut so. Keine Sau geht mit mir in die Filme, die hier laufen. Nie. Ich frage nicht einmal mehr. Deswegen sitze auch immer fast ganz alleine hier drin.
Und ich mag das. Weil es immer so war. Weil sich hier an diesem Ort ausnahmsweise mal nichts ändert.
Ich klinge mich heute immer noch am Rosenthaler Platz ab. Nur der Whisky, den ich danach trinke, ist teurer geworden. Und es gibt vernünftiges Essen dazu statt des grindigen Fleischrestedöners, für den es 2001 gerade noch reichte.
Und natürlich gefällt es mir immer noch, hier so alleine ohne Menschen. Von den Orten ohne diese schieren Massen an Leibern gibt es, seit die Stadt wächst, wächst, noch mehr wächst und bald platzt, weniger und immer weniger, sie bauen jede Lücke zu, nutzen jeden Freiraum, Eigenheim Eigenheim Eigenheim in Lage Lage Lage, mehr Events, mehr Pub Crawls, mehr Guided Tours, Fähnchen, Hütchen, Be Berlin-Souvenirs, jeder meiner früheren Plätze, an denen ich vor 20 Jahren noch alleine saß und die weiteren Routen auf der Buckelpiste meines Werdegangs skizzierte, steht jetzt in Marco Polo- oder gleich in Gault-Millau-Touristenführern und Horden von Reisebussen voller chinesischer Touristen laufen selfiesticksbewehrt in Blöcken sogar über den Schwedter Steg, so dass ich auch dort nicht mehr herumstehen, auf den Alexanderplatz schauen und trinken mag, sondern immer öfter weit nach Norden flüchte. Tegel. Karow. Oder nach Osten in eine Plattenbauschlucht hinter dem Linden Center von Hohenschönhausen. Oder gleich raus nach Brandenburg. Oder machmal in dieses Kino in den Hackeschen Höfen. Zu einem der letzten Orte in Berlins Mitte fast ohne Menschen. Mit diesen ganzen seltsam Filmen. Diesen Findlingen.
Ich werde von hier weggehen, sobald ich kann. Ich muss noch einige Jahre lang Mittel zur Seite legen, bis das trägt. Einen Plan machen. Einen Ort suchen. Dann mache ich als einer der Letzten aus dem Kreis der Verwegenen, die nur Freunde nennen zu kurz greifen würde, das Licht in meiner Bude aus und schaue mir Berlin von der Ferne an.