Hey Kind

Hey Kind,

groß bist du geworden. Frech bist du geworden. Selbstbewusst bist du geworden. Reichst mir gerade bis zum Bauchnabel und kämpfst schon wie ein Großer. Das ist gut. Ich habe immer gesagt, dass ich den ganzen blöden routinierten Elternscheiß nicht machen werde, die Dinge anders machen werde, locker bleiben werde, die ganzen Sentimentalitäten nicht an die große Glocke hängen werde, cool sein werde, doch jetzt habe ich plötzlich etwas im Auge, wenn ich zurückdenke an die Zeit, als ich dich noch mit einer Hand als lebendes Flugobjekt durch die Wohnung geflogen habe. Und jetzt bist du so groß, dass ich dich gerade mal noch auf den Schultern tragen kann. Und selbst das tut mir nach zehn Minuten im Nacken weh. Dinge gehen vorbei, weil du groß wirst. Ich habe nicht erwartet, dass das so schnell gehen würde.

Hey Kind, ich werde nicht immer in der Nähe sein können und werde dich vor den Dingen, die sie dir antun werden, wenn ich nicht da sein kann, nicht beschützen können. Die Welt ist nicht überall ein schöner Ort, du wirst das in der Schule zuerst erleben. Sie werden wenig Zeit haben, dich auf dem Schulhof zu beschützen und ich werde auch nicht da sein, also muss ich mich darauf beschränken, dir ein paar blöde Ratschläge mitzugeben, die du wahrscheinlich in den Wind schlagen wirst so wie alle Kinder die Ratschläge der Eltern in den Wind schlagen. So wie ich alle Ratschläge in den Wind geschlagen habe. Vermutlich müsste ich dir das Gegenteil von dem erzählen, was ich rüberbringen will. Ich müsste dir erzählen, dass du dich immer anpassen sollst, dass du immer den einfachsten Weg gehen sollst, dich auf keinen Fall mit den Stärkeren anlegen und niemals mit den Schwachen solidarisieren sollst. Das müsste ich dir erzählen und du würdest zurecht gegen mich rebellieren und alles anders machen.

Der weiße Weg ist nie der Richtige. Doch der schwarze auch nicht. Differenziere. Du kannst ruhig ein Arsch sein. Ja, sei ein Arsch. Aber wenn es möglich ist, sei nur ein Arsch zu Ärschen. Erkenne, wer ein Arsch ist und wer nicht. Das ist gar nicht so leicht. Ich bin oft mit richtigen üblen Ärschen abgehangen. Ärsche sind immer lustig, bei Ärschen ist immer was los, bei Ärschen kommt nie Langeweile auf, das ist wichtig in einem Alter, in der kaum jemand sich selbst genügen kann. Nutze die Ärsche, lass dich von ihnen unterhalten, lass dich mitreißen, habe Spaß, bitte ganz viel davon, aber baue nicht auf Ärsche. Vertraue ihnen nicht. Gib ihnen nichts in die Hand, mit dem sie dir schaden können. Und gehe, wenn die Zeit da ist, zu gehen.

Hey Kind, ich hoffe, ich konnte dir bisher vorleben, dass es wichtig ist, zu helfen. Teile was du hast, aber behalte dabei immer genug für dich und die deinen. Damit du entspannt leben kannst. Damit du genug zu essen hast. Niemand hat etwas davon, wenn es dir schlecht geht, weil du alles hergegeben hast. Gib das ab, was du zu viel hast und freue dich über das Leuchten in den Augen des Penners und gönn ihm das Bier, das er sich für deine zwei Euro kauft. Der hat sonst keine Höhepunkte mehr.

Bedenke immer, dass du sterben musst. Dass auch andere sterben müssen. Deshalb habe eine gute Zeit. Nimm mit, was geht, aber vergiss nie, dass die Dinge enden. Alle Dinge enden, das gilt für den Spaß, aber auch für den Schmerz. Die Vergänglichkeit wirst du nicht ändern können und was du nicht ändern kannst, musst du hinnehmen. Nicht lamentieren, sondern schlicht hinnehmen. So ist das immer. Nimm alles hin, auf das du keinen Einfluss hast. Was du zum Guten ändern kannst, ändere. Alles andere lass sein. Es lohnt nicht.

Erinnerst du dich als ich dir Fahrradfahren beigebracht habe? Ich habe dich angeschubst und du bist hingefallen. Immer wieder. Und ich habe dich immer wieder angeschubst und hinfallen lassen. Das hat den Horden von Übermüttern in unserem dämlichen Bezirk nicht gefallen, die nicht verstehen, dass Hinfallen nicht schlimm ist, wenn man wieder aufsteht. Und überhaupt spielt es keine Rolle, was die denken. Kümmere dich nicht um die Nachbarschaft. Es sind degenerierte Schnösel in viel zu teuren Wohnungen, die noch nie im Dreck gesteckt haben und deswegen auch nicht wissen, wie sie sich daraus befreien würden, würde es sie endlich mal erwischen.

Du hast schnell Fahrradfahren gelernt. Und es wird immer so sein wie beim Fahrradfahrenlernen. Ich werde dir nicht beibringen, nicht hinzufallen. Ich werde dir nicht beibringen, dem Schmerz aus dem Weg zu gehen. Heutzutage bauen sie sich überall universitäre Safe Spaces, in denen sie sich unter Ihresgleichen suhlen, weil sie die Welt nicht mehr ertragen. Weil sie außerhalb ihrer neurotischen Kissengruften nicht lebensfähig sind. Tu das nicht. Igel dich nicht ein, sondern stelle dich. Die Welt war immer so, sie wird immer so sein, es gilt, mit ihr umzugehen. Dich durchzubeißen. Aufstehen. Immer wieder aufstehen. Weitermachen. Wie beim Fahrradfahren. Fällst du hin, steht auf. Mach weiter. Kämpfe.

Doch. Auch du hast einen Safe Space. Bei mir zuhause ist immer ein Bett für dich. Hier habe ich einen Hafen gebaut. Wenn dir die Welt zu viel wird, ist das ein Safe Space nur für dich. Ich lasse dich nie hängen, ich habe immer eine Schulter zum Festhalten für dich und im Schrank habe ich immer diese Käsesticks, die du so magst. Komm vorbei, mach den Tank wieder voll, jederzeit, doch ich will, dass du immer wieder raus gehst, wieder aufstehst, wenn sie dich niedergeschlagen haben, zurück kommst, zeigst wer du bist. Was du kannst. Du hast nicht immer und überall ein Anrecht auf einen Safe Space. So ist die Welt nicht gestrickt. Sie wirft dir den Handschuh hin. Heb‘ ihn auf.

Ich werde dir immer helfen. Wenn die Bullen dich suchen, werde ich dich verstecken. Wenn du einen Anwalt brauchst, besorge ich dir den besten, den ich von meinem Geld zahlen kann. Wenn du kiffen möchtest, nimm gutes Zeug. Lass dich nicht im Görlitzer Park abzocken wie ein Tourist.

Auch wenn ich mich freuen werde, wenn du das, was ich dir an Backup geben kann, nie auf die Probe stellen wirst, sondern vielleicht weniger blödsinnige Sachen machen wirst als ich es als Jugendlicher tat, ist es mir wichtig dir zu sagen: Ich bin immer für dich da. Du kannst immer auf mich bauen. Wenn du fällst, kann ich dich vielleicht nicht sofort auffangen, aber ich werde dir wieder aufhelfen. Dich aufbauen. Dir zeigen wie du wieder stehen kannst.

Genug. Mehr habe ich nicht. Und jetzt lauf, Kind, lauf.