
Dann ist es jetzt soweit. Das Kind wird zunehmend schulpflichtig. Ich muss eine Schule aussuchen. Ich hasse Schulen.
Um unter den Schulen eine aussuchen zu können, muss ich welche besuchen gehen. An den Tagen der offenen Tür. Hölle Hölle. Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Jack-Wolfskin-Jacken. Helikoptergesichter. Übermütter. Verkniffene Superpapas. 6.718 Semester Kommunikationsdesign in einer Aula. Hysterische Paare, die sich überbieten mit Fragen nach Ernährung, Tanzstunde und fremdsprachlicher Sonderförderung, gerne kostenpflichtig, man will ja nicht jeden dabei haben. Vanfahrer, Yogafratzen, Vollkornvetteln. Ein nie versiegender Arschgeigenreigen. Gips däs Middagesse au vägädarisch? (Halt die Fresse)
Mein Kind auf eine der Privatschulen im Patchoulidunstkreis meines Bachblütenäquators Prenzlauer Berg zu geben, kommt eigentlich schon aus ethischen Gründen nicht in Frage. Ich muss ja auf den Umgang achten, ganz abgesehen davon, dass die Mehrheit der hiesigen Privatschulen entweder eine obskure Art von Selbstverwirklichung praktizieren, die so ein Kind in einen Kokon aus weichgezeichnetem Plüsch packt und folgerichtig später am Leben und sich selbst scheitern lässt, oder sie drillen die Kinder schon ab der ersten Klasse mit Mandarin, Arabisch, Englisch und Notengebung. Dazwischen ist wenig. Privatschulen. Feuer oder Wasser. Entweder selbstverwirklichendes Töpfern oder Bootcamp.
Staatlicherseits könnte die Situation kaum trüber sein. Die öffentlichen Schulen Berlins sind allzu oft bemitleidenswert heruntergekommene Baracken, an denen diejenigen lehren, die es aus irgendwelchen Gründen nicht zur Verbeamtung nach Bayern oder Baden-Württemberg geschafft haben und jetzt so unterbezahlt wie ausgebrannt hier im Staatsdienst von Berlin versauern müssen. Sie werden flankiert von Quereinsteigern ohne pädagogischen Hintergrund, in hektischer Not eingestellt, mies bezahlten Freelancern und im Schatten des Personalmangels aus der frankensteinschen Gruft seliger Mauerzeiten reaktivierten Pensionären. Schocknotelend. Die drei staatlichen Schulen aus meinem Einzugsgebiet, in die ich das Kind schicken darf, machen mir die sicher geglaubte Entscheidung gegen eine Privatschule so schwer sie können. Lehrkörper auf der Flucht. Die Eltern nicht weniger. Die Schulleitungen fahrig, mutlos, nicht überzeugend. Verrisse im Internet über Ausfälle über Ausfälle über häufig wechselnde Rektorinnen über ungeputzte Klassenräume über kaputte Klobrillen. Überhaupt die Optik. Heruntergekommen, ambitionslos und sichtbar von vorgestern. Speckige Röhrenmonitore, gammlige Tafeln, bröckelnder Putz und kaputte Spielgeräte. Schulen wie die Stadt. Vernachlässigt. Abgehängt. Sich selbst überlassen. Ein Stahlbad, das vorbereitet auf das, was hier in der Stadt noch alles nicht funktioniert.
Die Klos sind neben Stundenausfallquote, Renovierungsstand, Technik und Qualität der Hortbetreuung meine Indikatoren für den Zustand einer Schule. Sie sind allzu gerne in einer erbärmlichen Verfassung. Mein Knockout-Kriterium. Denn wenn sie schon elementare Bedürfnisse wie die Armaturen zum Scheißen nicht gemanagt bekommen, wird alles andere locker genauso gruselig wie die zerbrochenen Klobrillen sein. Im Ernst: Nicht mal am Tag der offenen Tür funktionieren die Toiletten durchgehend. Ich sehe Stromkabel über Putz an uralten Sandsteinwänden. Gammlige Flure. Rostige Handläufe. Zerbrochene Fliesen. Trostlose Schulhöfe. Wurzelwerk wuchert Vorkriegsbodenplatten in Stücke. In einer Ecke Müll. Ausgetrocknete Farbeimer. Ein alter Socken. Willkommen in meinem Einzugsgebiet. Stupid Prenzl Hill. Fack ju Bötzow.
Flankiert wird mein Dilemma vom allgemein jämmerlichen Ruf des Berliner Bildungssystems, dieser bundesweiten Lachnummer. An den Stammtischen zwischen Hamburg-Altona und dem Glockenbachviertel geht die Mär um, dass wenn Sie fehlerfrei Ihre Adresse aufsagen können, so dass RTL weiß, wohin sie den Vertrag für ‚Schwiegertochter gesucht‘ schicken müssen, und wenn Sie zudem noch das Pfandgeld von fünf Sternburgpullen korrekt mit dem Preis für eine Packung Polenkippen verrechnen können, bekommen Sie hier in Berlin die allgemeine Hochschulreife in die Hand gedrückt, mit der Sie jedoch sogar in Sachsen ausgelacht werden. Berlin. Sie können hier nichts. Kommen Sie mir nicht mit Bildung. Bildung ist wie Flughafen. Oder S-Bahn. Wohnungspolitik. Öffentliches WiFi. Geht gar nicht.
Natürlich hat auch dieser Zustand seinen Grund in dem hier so hartnäckig kultivierten öffentlichen Dilettantismus, der dazu führt, das sich am allgemeinen Bildungssystem jeder, der sich berufen fühlt, mal ausprobieren darf. Die Schullandschaft dieser heruntergewirtschafteten Stadt wird seit Jahren penetriert von Bildungsreformern verschiedenster Glaubensrichtungen, die an Generationen von Kindern immer neue Heilslehren ausprobieren dürfen. Einschulung mit 6 Jahren. Einschulung mit 5 Jahren. Jetzt wieder mit 6. Zwei-Jahres-JüL. Drei. Oder auch vier. Jetzt wieder keins. 12-Jahre-Abitur. Dann wieder 13. Immer neue Säue durch Dörfer. Demnächst werden wir hier voraussichtlich die Grünen im Senat sitzen haben. Dann reitet Gender mit der Wucht aller frauenbewegten Bildungskommissare in die öffentlichen Schulen ein. Was für eine Freude. Also was tun? Doch die Flucht vor den städtischen Chaoten und Ideologen in die Privatschule? Drill. Disziplin. 30 Wochenstunden. Kein Ausfall. Und Schach verpflichtend. Och. Böh. Privatschulen besuchen nur diejenigen Schüler, die woanders nicht zurecht kommen, aber deren Eltern genug Asche für so einen Elitenknast haben. Nur Querulanten. Schnöselkinder. Bonzenbrut. Diese ganzen wanzigen Prenzlauer Berg-Bratzen, die hiesige Cafés unbetretbar machen, weil ihnen niemand Grenzen setzt. Überhaupt Grenzen. Müssen Grenzen sein? Wenn ja, wie? Welches Konzept ist das richtige? Jede Schule hat ein anderes. JüL nein. JüL ja. Noten ja. Noten nein. Ab der ersten Klasse. Der dritten. Der achten. Oder gar nicht. Basteln. Tanzen. Musik. Mandarin. Arabisch. Hausaufgaben ja. Hausaufgaben nein. Französisch. Englisch. Halb-halb. Frontalunterricht. Mentoren. Gruppenkuscheln. Schule im Block. Schule am Arsch der Stadt. Teure Schule. Billige Schule. Öffentlich. BIP. Kreativschule. Montessori. Privat. Ja. Nein. Was für ein Chaos.
Die Spätsommersonne wärmt mir den Nacken. Wieder eine Privatschule. Ich mache die Augen auf und die Optik fickt mir die Netzhaut. In den Privatschulen funktionieren die Klos. Hochwertige Armaturen. Kein Rost. Kein Grind. Kreidelose Tafeln. Tablets für die Kinder. Chromglänzende Küche. Frisch gestrichen. Frisch gewienert. Nagelneue Turnhalle. Tadellose Turngeräte. Auf dem Hof ein Trampolin. Busshuttle zum wöchentlichen Schwimmunterricht. 10-15-köpfige Schulklassen. Maximal 20. Statt 32. Boar. Puh. Wow. Alter. Flash. Fuck this shit. Crap this fuck.
Überforderung bricht Bahn. Ich bin schon ohne die unwirtlichen Begleitumstände dieser unüberschaubaren Konzeptekakophonie denkbar ungeeignet, eine Schule auszusuchen. Ich habe keine Ahnung von Schulen. Ich hasse Schulen. Schulen waren immer der Feind, an den Start gegangen, um mich zu beugen, mich klein zu machen, geführt von dreckigen Sadisten, die eine sichtbare Freude daran hatten, die ihnen überlassenen Verlierer scheitern zu sehen. Schule und ich. Das ging nicht zusammen. Oft genug haben sie mich gesucht, um die Schulpflicht durchzusetzen. Bis ich mich wieder durch ein Schulflurfenster absetzen konnte, nur um nachts zurück zu kommen, mit dem Sprühlack, um ihren sterilen weißen Flur vollzutaggen. Was haben sie gefahndet. Was haben sie mich verhört. Was hatten sie mich im Verdacht. Sie hatten so Recht. Aber sie haben mich nie drangekriegt. Ich habe nie etwas zugegeben. Das ist die Geschichte von den Schulen und mir. Schule ist feindlich. Das war immer so.
Wenn ich heute durch diese Gänge dieser Tag der offenen Tür-Schulen gehe, rutscht das alles wieder hoch wie saure Kotze meine Speiseröhre. Alles ist wieder da. Schmerzhaft real. Polizeigriff. Drei Mann. Und jetzt setz‘ dich hin. Verdammt! Setz dich hin! Du sollst dich hinsetzen! Du bist ein liderlicher Charakter.
Ich muss eine Entscheidung treffen. Ich kann das normalerweise. Abwägen. In den Bauch hören. Klarziehen. Entscheiden. Konsequenzen tragen. Ich habe keine Probleme mit Entscheidungen, doch ich bin denkbar ungeeignet, so eine Entscheidung zu treffen wie ich sie nun treffen muss. Privat. Nicht-Privat. Hier. Oder da. Oder dort. Ich habe keinen Plan. Was ist richtig und was falsch? Das Stahlbad meiner Asozialenschule hat mich zu einem gemacht, den nichts mehr umwirft. Druck. Intrigen. Persönliche Verluste. So schnell kriegt mich nichts klein. Schlag mich und ich schlage zurück. Schulhof. Fäuste. Blut am Hemd. Du kriegst meine Jacke nicht. Ich fick dich. Komm her. Das klären wir. Du und ich. Nachher. Hinter der Turnhalle. Setz dich durch. Behaupte dich. Halt den Kopf oben. Ist das gut? Oder schlecht? Will ich das für mein Kind? Wäre ich heute so schwer verwüstlich, wenn sie mich gestreichelt statt geschlagen hätten? Wäre ich eine dieser lebensunfähigen Safe Spaces-Heulsusen geworden, wenn sie mich in einer Flauschgruppe ohne Noten tanzen und töpfern hätten lassen? Was ist richtig und was falsch? Ist es erstrebenswert, schwer verwüstlich zu sein? Ist die sanfte Tour die richtige oder verzieht sie das Kind nur? Keine Noten, kein Fleiß, sagen die einen. Leistungsdrill erzeugt Zombies, sagen die anderen. Was denn nun? Über alles das soll ich entscheiden. Dabei habe ich keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Ich bin ratlos und nicht mal das Internet ist eine Hilfe. 50.000 Forenbeiträge – 80.000 Meinungen. Too much information. Ich weiß nichts mehr. Ich kann das nicht. Ich kann Schule nicht ausstehen und muss nun doch dafür sorgen, dass mein Nachwuchs in eine passende kommt.
Es kommt selten vor, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Eigentlich nie. Eigentlich weiß ich immer, was zu tun ist.
Jetzt nicht.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
