
„Laufen! Nicht schnaufen!“
Was?
Was war das?
Etwa der alte Furz, den ich gerade überholt habe?
Es ist Sonntagfrüh. Ich ziehe meine Runden um den Weißen See, der noch friedlich im Frühnebel auf den Tag wartet. 18 Kilometer habe ich in den Beinen, erarbeitet in den vielen Runden um den See und der harten Anreise über die Greifswalder Straße, deren Bürgersteige so marode sind, dass jeder Crosslauf ein Scheiß dagegen ist. Ich bin sehr müde. Spät ist es geworden letzte Nacht. Zu viel Alkohol, zu viel Junk. Alter Whisky, staubige Cracker, dumme Tortillachips, unvernünftiger Käsedip. Ich fühle mich ausgeschissen, bin aber hier fünf Stunden nach der Heimfahrt aus einem Spandauer 60er-Jahre-Betonsilo mit einem wieder viel zu redseligen Taxifahrer wieder am Start. Sport. Schweiß. Müdigkeit. Hass. Der Single Malt ist flüssiges Harz, das mein Körper aus seinen verstopften Poren presst. Den könnte ein findiger Chemiker wahrscheinlich sammeln, aufbereiten und als Scheibenreiniger wiederverwenden. Oder für Jägermeister. Mir geht es nicht gut, doch das macht nix. Der schäbige Sack von Körper muss auf die Straße. Er muss arbeiten. Geist beherrscht Körper. Ein Körper, der saufen kann, kann auch kilometerweise bröselige Asphaltplatten fressen. Ich will das so. Noch ist das so. Und der Körper soll das bringen.
Ich drehe eine weitere Runde. Da ist der alte Furz wieder. Klassisch mit Hut und Stock. Ein Klischeemodell. Typ Anscheißer. Falschparkeraufschreiber. Vermutlich Witwer, dem der Lebenssinn abhanden gekommen ist, seit er seine Alte nicht mehr wegen des unausgeräumten Geschirrspülers anscheißen kann. Er bringt sein Sprüchlein nochmal:
„Laufen! Nicht schnaufen!“ schallt es mir hinterher.
Ein Spacken. Ein Bastard. Was stimmt mit dem nicht? Was will der von mir? Wem nützt das?
Nummer 3. Und es tönt tatsächlich noch einmal: „Laufen! Nicht schnaufen!“
So. Das reicht. Manchmal bin ich es leid und habe Lust, Dinge klar zu rücken. Einen Pflock einzuschlagen. Grenzen zu setzen. Nicht mehr die Dinge, die Berlin mir zumutet, wie alle stoisch zu hinzunehmen, sondern einfach mal Berlin eine reinzuhauen. In die Fresse. Auf’s Maul. Ich habe Laune. Ich bin in Stimmung. Irgendwann ist auch mal gut. Die Sache drehen wir jetzt um.
Ich stoppe. Wende mich ihm zu. Schaue ihn an. „Okay. Was kann ich für Sie tun? Was möchten Sie? Wie kann ich Ihnen helfen? Bitte. Ich bin für Sie da. Legen Sie los.“ Meine Arme weisen dabei leicht angewinkelt vom Körper weg. Handflächen sind ihm zugewandt. Die Vertrauensgeste. Jesusstyle. Klassikerpose für Vortragende. Ich bin gut in solchen Sachen.
Er ist natürlich irritiert. Klar, Typen wie er, die wahllos andere Menschen anpöbeln, werden gewöhnlich ignoriert. Niemand will ihre Kreise länger als notwendig stören. Jeder wendet sich von ihnen ab. Ergreift die Flucht. Zieht die Kinder hinter sich her. Berlins Irre sind Legion.
„Mann ich sag‘ doch nur…“ beginnt er.
„Ja?“
„Sage doch nur.“
Mehr kommt nicht. Ich könnte es an dieser Stelle nun gut sein lassen, doch ich bin noch nicht fertig. Er kriegt noch eine:
„Jetzt sprechen Sie schon. Ich nehme mir Zeit für Sie. Sie haben mir eine Botschaft zugebrüllt und ich habe verstanden. Ich bin jetzt für Sie da. Sie haben ein Bedürfnis artikuliert und ich möchte dem abhelfen. Sprechen Sie. Bitte.“
„Habe doch nur gesagt.“
Er ist vollkommen von der Rolle. Ich sehe das und es ist genau das was ich will. Das ist das Problem mit dieser Stadt. Der Honk ist ein Musterexemplar derer, die einfach nicht das Maul halten können. Alles wird ungezügelt kommentiert, besabbelt, beseiert, die ganze Umgebung, und wenn es nur ein harmloser Läufer sonntagfrüh am Weißen See ist, der seine Runden dreht. Der schnauft eben. Weil er müde ist. Und das triggert den Honk so sehr, dass er das lautstark kommentieren muss. Doch das Kuriose ist: Es geht gar nicht um den Austausch. Oder wechselseitige Kommunikation im regulären Sinne. Sie wollen nur sabbeln. Nerven. Pöbeln. Jemanden belegen. Einbahnstraße. Und wenn doch mal einer wie ich drauf einsteigt, sind sie irritiert. Damit können sie nicht. So ist Berlin. Eine Kakophonie an Nichtigkeiten und niemanden interessiert der Empfänger der Botschaft. Botschaften. Botschaften. Noch mehr Botschaften. Eine Kohorte von Honks blafft und keinen juckt’s. Fresse halten? Kann keiner mehr. Contra vertragen? Offenbar auch nicht.
Ich lasse immer noch nicht von meinem Auftritt ab (typisches Männerproblem – haben wir die Dinge mal angefangen, lassen wir die Dinge nicht mehr sein):
„Sie können so lange sprechen wie Sie wollen. Ich höre Ihnen zu. Sagen Sie mir Dinge. Teilen Sie sich mit. Laden Sie alles ab was Ihnen eine Last ist. Bitte. Hier stehe ich. Nur für Sie. Ich gehe nicht weg. Erzählen Sie. Bitte. Befreien Sie sich. Jetzt kommen Sie schon.“
Er dreht sich um und geht. Habe ich da einen zarten Hauch von Panik in seinen Augen gesehen? Kann ich verstehen. Ich sehe im Moment bestimmt noch irrer aus als er ist. Den Irren markieren. Auch das kann ich richtig gut. Vor meinem Grinsen habe ich selbst manchmal Angst. Die Stadt war mein Lehrer. Der Beste.
„Hey! Kostenloser Tipp! Machen Sie doch ein Blog im Internet auf! Das hilft! Und Sie können jeden Scheiß kommentieren! Absolut jeden Scheiß! Es gibt keine Grenzen!“ rufe ich ihm hinterher, doch das hört er schon nicht mehr. Er läuft jetzt deutlich schneller. Will weg. Flüchten. Hätte er Kinder, würde er sie hinter sich herziehen. Ja. Das ist gut. Schluck die Medizin, Honk, schluck alles, denke ich, als ich meine Runde zuletzt endlich fortsetze. Zeit für eine Dusche. Ich bin müde. Getting away in Honkistan. Manchmal tue ich ihnen gerne weh. Sie brauchen das. Genau wie ich. Glückwunsch.