Die verdammte Alte hat mir den Kompass zerfickt.
Seit Jahren sitze ich in meiner Stammkneipe in der Hauptstadt dieses dicken, fetten, reichen Landes und propagiere offene Grenzen. Refugees welcome. Die alte Antifa-Losung. Dieses Land hat Geld. Es ist nur falsch verteilt, aber grundsätzlich ist es reich, das Land. Wir können was abgeben. Wir haben genug. Wir können jenen helfen, die es nicht dicke haben. Sage ich. Vertrete ich. Wohlfeiles Gelaber, von dem mir selbst klar war, dass es nie zum Schwur kommen wird. Ist doch egal. Ich kann ja labern was ich will. Ich muss ja nie liefern.
Gleichzeitig opponiere ich gegen die Alte an der Spitze, diesen Pudding, diesen nichtssagenden Pedell, diesen Büttel von Industrie und Kapital, und gegen ihre großkoalitionäre Truppe aus Nichtskönnern, bei denen jeder in diesem Land froh sein muss, wenn sie nichts kaputt machen, sondern einfach nur still das Geld derjenigen einsacken, von denen sie alimentiert werden. Grüßauguste. Hanswürste. Charaktermasken.
Und jetzt absorbiert dieser Pudding, den in den letzten zehn Jahren nie jemand an die Wand zu nageln vermochte, die alte Antifa-Losung, macht die Grenzen auf und stellt sich mit voller Absicht gegen den Wind, gegen den Widerstand der eigenen Klientel, gegen die Muffdeutschen, Ressentimentheinis, Angstbesessenen, gegen die Mehrheit, die immer weniger schweigt. Was soll das? Was bringt das? Was steckt dahinter? Da muss doch ein Haken dran sein. Irgendein Hintergedanken. Irgendeine Ratte. Da stimmt doch was nicht. Wieso entdeckt ausgerechnet der Pudding sein Herz für die Geknechteten dieser Welt und lässt sie ein? Wollen die Verantwortlichen wirklich nur den Mindestlohn plätten oder was steckt dahinter? Menschlichkeit kann es nicht sein. Ausgeschlossen. Also was ist es dann?
Mein Umfeld hingegen hat sich klar positioniert. Mein Umfeld hat Angst. Vor schwarzen Männern. Vor Drogen. Vor arbeitslosen Massen. Vor Vor-Schulen-Rumhängern. Einbrechern. Vor dem Verlust dessen, was sie sich an Identität einbilden. Vor Muselmanen. Kofferbomben. Sprengstoffgürteln. Und davor, dass Djamal aus Syrien die eigene Tochter mit dem Erreichen der Pubertät in ein Kopftuch stecken wird. In der Kneipe, auf Geburtstagsfeiern, in der Teeküche vom Borgwürfel, überall, wo ich momentan bin: Der Schock sitzt ihnen in den Knochen.
Und den kaufe ich ihnen sogar ab.
Ach ja, diese Angst. Immer nur die Angst. Jetzt schlägt das Pendel wieder einmal um. Vor kurzem noch der deutsche Triumphmarsch nach Athen, der Taumel ob des Sieges im Austeritätsarmdrücken, kleingekriegt, den linken Salonkommunisten, an die kurze Leine gelegt, Hausaufgaben machen, Hausaufgaben, hat er nicht gemacht, der Grieche, muss er machen, sparen bis es quietscht. Wir sind doch wer. Und nicht mit uns. Hat lange genug genervt. Der Grieche.
Und jetzt kommt der Syrer, Panik greift Raum, doch der Pudding macht hoch die Tür, die Tor macht weit und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ist der Pudding jetzt Antifa? Was soll das? Und bedeutet Opposition gegen die Regierende, dass ich mich jetzt mit dem Mob gemein machen muss, der rumzündelt und sich in einem Meinungsreigen suhlt, der vor ein paar Monaten noch als überwunden galt, jedoch plötzlich seine untote Wiederauferstehung feiert?
Die Teeküche im Borgwürfel, meinem Arbeitsplatz, ist sich aktuell wieder einmal einig. Es wird kein gutes Ende nehmen mit dem Land. Bürgerkriegsfantasien werden ausgetauscht. Kaffeebecher in der Hand. Das Containerlager neben dem gutbürgerlichen Wohngebiet in Köpenick sollte mal 400 Menschen beherbergen. Jetzt tausend. Bald zehntausend. Wetten sie. Köpenick wird überrannt. Sagen sie. Jeder hat es schon vor Jahren gesagt. Und sie lachen nur noch hämisch über die rührseligen Kitschgeschichten vom Boulevard, mit denen sie auf Linie gebracht werden sollen. Mit dem Kaffeebecher in der Hand. Immer mit dem Kaffeebecher in der Hand. Und ich bin wieder einmal Opposition. Auch mit Kaffeebecher in meiner Hand. Doch etwas ist anders. Sie werden mehr. So viele waren sie noch nie. Heute morgen war die neue Auszubildende dabei. Die sitzt gerade beim Buchhalter. Hat das Wort geführt. Mit gerade mal 19. Was da nachwächst, ist oft chauvinistisch bis ins Mark. Eiskalt und doch abgebrüht. Ich dachte immer, die Dinge werden tendenziell besser.
Doch das werden sie nicht.
So ist die Situation. Die Dinge drehen sich auf eine bizarre Art um. Die Szenerie wandelt sich und ich stehe plötzlich an der Seite derer, mit denen ich nichts gemein haben mag. Ich stehe auf der Seite vom Pudding und komme mir manchmal vor wie der einzige, der die Ruhe bewahrt. Ruhe. Erste Bürgerpflicht. Wir haben kein Problem. Wir schaffen das. Dieses Land schafft das. Wir haben genug von allem. Das kriegen wir hin. Sage ich. Und klinge schon so wie der Pudding. Ich. Der den Krawall mag. Auf Linie mit dem Pudding. Wir teilen jetzt die Sicht auf die Dinge. Und gegen uns steht der Mob. Die Irrationalen. Die Schreihälse. Der traurige Botho. Die armen Lichter voller Angst. Ja. Gut. Bitte. Noch einmal fürs Protokoll und aus Prinzip: Refugees welcome. Immer noch. Und wenn der Pudding jetzt noch die Bankentrusts zerschlägt, das Hartz-System schleift und die Bonzen zur Ader lässt, dann könnte das was werden mit uns. Ja. Uns. Das könnte was werden. Mit dem Pudding und mir.
Hat jemand meinen Kompass gesehen? Eben war er noch hier.