Pfingstmontag. Andere fressen und ich laufe. Muss sein. Genug gefressen schon dieses Jahr. Es ist der Run of spirit. Ein kleiner 10 km-Lauf. Eine Charity-Sache. Im Evangelischen Johannesstift zu Spandau. Es geht um Inklusion. Alle angebotenen Läufe drehen sich um die Teilhabe von behinderten Menschen. Die Einnahmen fließen in sporttherapeutische Angebote für behinderte und sonstwie benachteiligte Kinder. Das klingt so gut, dafür fahre ich sogar nach Spandau.
Dieses Jahr habe ich mein Kind mit angemeldet. Für den Kinderlauf. Auch wenn ich mich früher immer über diese seltsam entrückten glückselig grinsenden Eltern lustig gemacht habe, die vor dem Kinderstart wie aufgescheuchte Twitterkrieger, wenn irgendwo ein rosa Überraschungsei gesehen wird, hysterisch herumspringen und völlig unkontrolliert gestikulieren, fotografieren, rufen und gleichzeitig einen Stepptanz aufführen: Ich benehme mich ganz genauso. Ein irrwitziger Stolzer-Papa-beglückt-alle-buckligen-Freunde-nebst-Familie-bis-ins-dritte-Glied-mit-zwanzig-identischen-Kinderfotos-pro-Person-Reigen. Es ist zum Kotzen. Ich bin genau wie die.
Ich laufe hier nahezu jedes Jahr. Es ist ein angenehmer Lauf. Sie laufen auf den 10 km viermal durch das Stiftsgelände mit dem fantastischen Publikum aus begeisterten Pflegefällen außer Rand und Band, die Ihnen zujubeln als wären Sie ein soeben zurückgekehrter frischgebackener Olympiasieger.
Der Rest ist Feldweg und Wald. Gute Bedingungen.
Das Zugpferd des Laufs ist der blinde Marathonläufer und Paralympics-Sieger aus Kenia Henry Wanyoike. Der ist jedes Jahr dabei und macht mich und die meisten anderen natürlich vollkommen naß, so dass es mein Ziel ist, dass er mich nur einmal in den vier Runden um das Johannesstift überrundet. Das ging klar bisher.
Inklusion umfasst heute auch mich. Denn ich habe die beiden letzten Abende wieder gesoffen und hier eigentlich aus rein sportlicher Sicht nix verloren. Gestern war es besonders schlimm. Redbreast Whisky. Pfälzer Weißwein. Und … sorry … Crémant mit Wodkakirschen. Stand da rum. Muss ja weg. Wird sonst schlecht.Der Exzess hat zur Folge, dass ich eine Fahne mit mir rumschleppe wie ein durchschnittlicher S-Bahn-Spritti mit Maulgünther. Diese Fahne sucht ihresgleichen, zumindest hier unter diesen kerngesunden Jesusfreaks, die vor der ganzen Veranstaltung erst mal einen kapitalen Gottesdienst abhalten. Mit Singen. Ich bin mir sicher: Alkoholfahnen kennen sie hier nicht, es sind ja Protestanten. Klar, ein wenig weiter südlich im U-Bahnhof Rathaus Spandau sieht das wieder anders aus. Da riechen sie wie ich. Nach Sprit. Nach Alk. Nach Fusel. Aus Hals, Poren und dem Arsch. Ich bin ein wandelner Alkoholmissbrauch und chronisch schlechtes Vorbild. Würde ich an einen Baum pinkeln, würde der eingehen und man würde mich verhaften – wegen der Kontamination des Grundwassers.
Meinem Player, dem chronischen Dolchstoßer, habe ich dieses Mal die Auswahl freigegeben anstatt ihn mit dem Death Metal-Ordner zu gängeln, denn ich muss langsam machen heute. Eine Zerrung macht mir zu schaffen. Sie ist nicht so schlimm, dass hier nicht für mein gutes Gewissen antreten könnte, aber ich muss vorsichtig sein. Deshalb gebe ich dem Player die Shuffle-Auswahl frei. Weil ich weiß, was er daraus machen wird, weil er es immer macht, wenn er die Gelegenheit dazu hat: Langsame depressive Songs, die mir wie Blei in die Beine fahren und mich automatisch dazu bringen werden, schonend zu laufen, mich überholen zu lassen, die Landschaft zu bewundern, mich hinzugeben statt zu kämpfen.
Und so greift der Player in die Vollen und bringt folgende Interpreten in zufälliger Reihenfolge:
Suzanne Vega
Lana del Rey
Soap & Skin
Charlotte Gainsbourg
Nouvelle Vague
Massive Attack
Of the wand & the moon
Sophie Zelmani
Das Ruhigste vom Ruhigsten vom Ruhigsten, Sir. Kein Death Metal. Kein Power Doom. Nicht mal Metallica. Nicht ein Stück. Es klappt. Ich werde unverzüglich depressiv und sehr langsam.
Das ist heute nicht schlimm, denn der Lauf ist weniger auf Konkurrenz ausgelegt und heilig-ernster Wettbewerb betrifft nur die ersten 20 Plätze sowie die untrainierten Jugendlichen, die mich am Start in ihren untauglichen Adidas Samba gazellengleich überholen und die ich später wieder einsammle – außer Atem und völlig dehydriert. Weil sie sich überschätzen. Weil sie sich immer überschätzen.
Die Bewohner des Stifts jubeln jedem Teilnehmer zu als gäbe es nichts Größeres als diesen Tag mit dieser Veranstaltung heute. Sie feuern die sich überschätzenden Jugendlichen an, mich, die kämpfenden aber respektabel durchhaltenden Dicken und Henry Wanyoike natürlich. Auch der letzte Platz, der nach gut anderthalb Stunden ins Ziel wackelt und aussieht wie die Mutprobe eines Junggesellenabschieds oder eine verlorene Wette, wird bejubelt als hätte er gerade die Eiger Nordwand bestiegen. Ohne Seil.
Sicher, wir laufen hier auch für sie, die Benachteiligten, die, die nicht so viel Glück hatten wie wir, aber diese Begeisterung, mit der einer aus seinem Rollstuhl heraus mich wandelnde Whiskyleiche anfeuert, auf dass ich es ohne im Pfingsmontagsdelirium nach zwei durchsoffenen Nächten über eine Wurzel stolpernd auf die Fresse zu fallen ins Ziel schaffe, ist schon erhebend und lässt wieder eine Runde laienphilosophischer Betrachtungen gepaart mit eiskalten Wahrheiten durch mein weichgekochtes Hirn mäandern: Es ist nicht schön, was ich da tue. Ich treibe meinen gesegnet gesunden Körper mit Alkohol, Drogen und rotem Fleisch in den langsamen Ruin, einen Körper, für den andere wahrscheinlich ihre Oma zum Spargelstechen in Beelitz verkaufen würden, für etwas, das sie pfleglich behandeln würden, dieses Geschenk, ohne Behinderung, guter Stoffwechsel, gute Lungen, einfacher Muskelaufbau, Zähne gut, Augen gut, nur die Ohren totbeschallt und die Seele tränenschwarz. Ich könnte vielleicht mehr draus machen, mit etwas mehr Ehrgeiz, positiverer Grundstimmung oder einfach nur weniger Giftstoffen, aber ich missbrauche das Geschenk wie ein Auto, das ich mit der Handbremse um Serpentinenkurven jage, mit Vollbremsungen malträtiere und mit Hilfe des dauerhaft durchgetretenem Gaspedals über unebenes Gelände langsam runterrocke.
Der Junge im Rollstuhl winkt jedes Mal, wenn ich an ihm vorbei komme. Er hat nur noch einen Arm und der ist seltsam gewinkelt. Aber er lacht mir zu. Freut sich. Einfach so. Der, der so viel mehr Lasten trägt, feuert den an, der es einfacher hat.
Der Gedanken Düsternis vertreibt die Zielgerade. Gleich bin ich da. Im Ziel. Ich höre schon das Rufen. Die Rasseln. Sie klatschen. Ich bin durch, da ist das Ziel. Das fantastische Publikum pusht mich auf die letzten Meter. Lief gut heute. Henry Wanyoike hat mich nur einmal überrundet. Und als mir eine Freundliche die Medaille umhängt, freue ich mich schon auf Freitag, denn da wird wieder ausgeschenkt. Und gerollt. Und gezogen.