Retrospektive: Bahnhof Lichtenberg

(1998)

„Warst du schon mal in Moskau?“ Tomasz nimmt einen Schluck Wodka. Immer wenn er angeschossen ist wird er ganz ruhig und eindringlich. Und macht wichtige Miene. Kopf geneigt, eine Augenbraue hochgezogen. Gesprächspausen, in denen er Worte wirken lässt.

Es ist spät. Die russische Kneipe signalisiert die letzte Runde. Der Wodka wird hier in schweren Wassergläsern ausgegeben. Natürlich.

„Ich war noch nie in Moskau.“ Ich spüle mit einem Schluck Bier nach und zünde mir eine Benson an, deren Schachtel im Schein der Kerze das Glas mit dem Beluga vergoldet. Ein blechener Chor singt Katjusha. Die Matrone hinter der Bar faltet Geschirrtücher. Ich bin schon lange angezählt und weiß nicht, welche Kraft mich noch auf dem Barhocker hält. Das Ende ist nicht mehr weit. Ein Wässerchen. Vielleicht zwei. Nächte wie diese werden mein Untergang sein ist eine Wahrheit, die noch zu weit weg ist, um entsetzlich zu sein.

„Ich würde gern mal nach Moskau.“

„Ich auch.“

„Wollen wir nach Moskau fahren?“

„Wie denn?“

„Ich weiß wie.“

Tomasz schaut wie er immer schaut, wenn er mit einem Plan schwanger geht, der in Kürze eingerahmt von theatralischen Pausen keine Fragen offen lassen wird. Polnische Gründlichkeit. Ein Mann, der weiß wo wann und vor allem wie die Dinge geschehen werden, die geschehen sollen.

„Ich weiß wie.“

„Jetzt?“

„Sicher, jetzt. Die fahren vom Bahnhof Lichtenberg ab. Ich weiß das. Hab‘ da mal einen Zug gesehen. Für die Rote Armee. Von da fahren die ab. Die fahren alle da ab. Jeden Tag. Um 4, um 5 so. Ticket kannst du im Zug zieh’n. Visum auch.“

(…)

„Alter, ist das der Zug nach Moskau?“

„Weiß ich nicht. Steht nix.“

„Doch. Russisch. Hier. Aber da steht nix von Moskau.“

„Der muss nach Moskau fahren. Von hier fährt alles nach Moskau.“

(…)

„Gute Nacht.“

„Gute Nacht, morgen sind wir mindestens in Warschau. Oder Minsk. In Minsk wird das Radgestell gewechselt. Auf russische Breitspur. Da werden sie uns wecken.“

(…)

Was tut da weh? Was ist das für ein Geräusch? Lebe ich noch? Tomasz hat Schweißfüße aus der Hölle, ist das eklig. Mein Kopf hämmert. Die verdammten Fenster sind beschlagen. Ein Zug? Wir sind in einem Zug. Was zur … ja, da war was. Ja. Minsk. Warschau. Frankfurt an der Oder. Moskau. Wo sind wir hier?

Ah.

Der Bahnhof Lichtenberg.

Das Abstellgleis.


Retrospektive: Sehnsucht