
Good evening. We are Motörhead and we play Rock’n Roll.
16. November 2014. Motörhead spielt in Prenzlauer Berg. Ausgerechnet. Es gibt wohl keinen unpassenderen Bezirk dafür, keine Gegend ist so wenig Rock’n Roll wie dieser überdimensionierte Friedhof mit Ringbahnanschluss. Selbst Eberhard Diepgen und seine Zehlendorfer Frontstadtmumien verkörpern mehr Rebellion als meine Nachbarn.
Die ganze Organisation hier in der Max-Schmeling-Halle demonstriert wie jede Massenveranstaltung in dieser Stadt heillose Stümperei bis zur absoluten Karikatur. Es beginnt schon am Einlass und setzt sich ohne Brüche über die Bierstände bis zur Fressbude fort. Alles dauert ewig. Studenten beim sich selbst finden. Langsamer als mein Kind beim Umziehen in der Kita. Na klar. Der Germanist steht am Zapfhahn, an dem er in stoischer Seelenruhe ein Bier nach dem anderen fertig zapft anstatt parallel zu arbeiten wie Wirt Stulle zur Stoßzeit in der Kneipe „Zum Tönnchen“. Und gehemmtes Mathe-auf-Lehramt durchsucht am Einlass die vernarbten Hells Angels, die das fünffache von ihm wiegen und die er anfasst wie eine heilige Reliquie. Schnarch. Klappt ja super. Effizienz – dein Name war nie Berlin. Wo nehmen die bloß die Leute her? Aus dem Proseminar Genderforschung? Philosophie? Pferdewissenschaften? Und warum fahren die nicht Taxi?
Tick. Tack. Schlumpf. Also stehen wir alle hier rum und warten, bis wir abgefertigt werden: Altgewordene Sofarocker, zahnlose Roskildeveteranen aus der Gruft, bandscheibengeplagte Lederkuttenträger in Schonhaltung, Buffy-im-Bann-der-Dämonen-Darsteller, faltige Emo-Bräute im Herbst des Daseins, Speckschürzen meets Truthahnkinn goes lichter grauer Backenbart aus dem Schnittmuster „Lemmy für Arme“.
Und ganz tolle Sinnsprüche in Fraktur-Lookalike gibt es auch:

Louder. Stimmt. Da war doch was. Motörhead – die vorgeblich lauteste Band der Welt. Und wer hat die Ohrstöpsel vergessen? Ich. Zum Glück verkauft mir die Max-Schmeling-Halle ein paar schäbige kleine Dinger für geschmeidige 4 Euro, die ich später nur mit Mühe wieder aus meinem Ohr gepult bekomme, weil sie unfassbar klein sind. Rock’n Roll ihr Pfeffersäcke. Seit mir die Fliehenden Stürme im Lovelite vor ein paar Jahren satte zwei Wochen Dauerpfeifen ins Ohr gefickt haben, gibt es kein Risiko mehr. Pfeifen im Ohr braucht kein Mensch. Ohrstöpsel schon. Ich möchte noch kein Kind im Ohr.
Hurra, es spielt eine Vorband:

Und dann spielt noch eine Vorband. Eine schlechter als die andere. Bumsrock. Glamrock. Keine Ahnung wie man das nennt. Zum Besaufen schlecht.
Vorbands sind eh kacke. Keiner mag Vorbands. Vorbands stehen da oben und spielen gegen eine Wand des Schweigens an. Und sind dann sauer, wenn keiner abgeht wie Hulle als würde in ihrer Snare Drum gerade der neue Heiland geboren.
Das Geilste sind Vorbands, die dann verzweifelt mit den Händen wedeln, um das Publikum zu motivieren und dabei Dinge in die eisige Stille brüllen wie „DO YOU FEEL GOOD? BERLIN YOU ARE AMAZIIIING!!!!“ Dann lieber Publikumsbeschimpfung. Das wirkt so schön ehrlich.
Aber ich versteh’s ja. Pure Verzweiflung trifft auf nacktes Desinteresse. Man stößt sich gegenseitig ab. Alle hier wollen Motörhead sehen und nicht Jimmy-Jones-aus-Pforzheim-Buckenberg-stümpert-am-Keyboard. Ich habe schon eine Minute nach Ende des Auftritts den Namen der Band vergessen. The Blended. The Gambit. The Braindead. Egal.
Limp Bizkit waren dieses Jahr übrigens Vorband der Böhsen Onkelz. Limp Bizkit. Vorband. Böhse Onkelz. Das waren mal Superstars. Also Limp Bizkit. Offenbar geht’s inzwischen mit großen Schritten abwärts. In Richtung Eberswalde. Angermünde. Küstrin-Kietz. Wahrscheinlich sind Limp Bizkit nächstes Jahr Vorband von Frei.Wild. Und dann von Jimmy Jones aus Pforzheim-Buckenberg. Oder von The Braindead.
Gut jetzt.
Hier kommt Lemmy.

Es ist Lemmy.

Es ist verdammt nochmal Lemmy.

Oder das was von ihm übrig ist. Ich bin hier aus purer Nostalgie, weil ich nicht weiß, ob es nach dieser Tour jemals eine weitere von Motörhead geben wird. Dürr ist er geworden. Dürre Ärmchen. Die Stimme versagt auch öfter mal. Da fehlt der Jacky zum Ölen. Jetzt trinkt er Diätlimo. Motörhead. Ich hatte schon zwei mal Karten hierfür. Einmal letzten Herbst und einmal Frühjahr. Fiel jedes Mal aus. Weil 40 Jahre Jack Daniels endlich ihren Tribut gefordert haben und Lemmy fast schon gegangen wäre ohne dass ich ihm noch einmal hätte Tschüss sagen können.
Lemmy. Legende. Wenn einer Rock’n Roll ist, dann er, auch wenn es aussieht, als ginge es nicht mehr allzu lange da oben. Irgendwer neben mir kennt jemanden Backstage, der sagt, Lemmy sähe aus wie ein Hundertjähriger. Ich glaube das. Zumindest hört er sich so an.
Hundert hin oder her – für den Klassiker reicht es immer noch:
Just ‚cos you got the power, that don’t mean you got the right.
Ein Fickfinger für die da oben. Danke dafür.
Aus. Dann ist es aus. Das voraussichtlich letzte Motörhead-Konzert meines Lebens. Gutes Konzert, sicherlich, es sind ja Profis, aber ein wenig zu routiniert ist es dann doch gewesen, was vielleicht auch am extrem braven Publikum lag. Ein paar Kopfwipper, Händepatschen wie bei André Rieu, nur zwei Glatzen mit Talibanbart wollten ein wenig pogen, doch haben es beim ersten Rempler, für den es den bösen Blick des vom Ellenbogen getroffenen Bandscheibengesichts gab, sein gelassen.
Sowieso scheint die Biederkeit des gastgebenden Bezirks auf eine magische Art auch das Publikum erfasst zu haben. Keine Gesänge. Kaum Gejohle. Kein Motzen über das dünne Bier. Nicht einmal anrempeln mag mich einer. Fast bin ich froh, dass sie wenigstens das Rauchverbot ignorieren und quarzen, was die schwarze Lunge hergibt. Rebellion. Ein bisschen wenigstens. Naja.
Niemand hat die Absicht, jemanden der Halle zu verweisen.
Und zuletzt stehe ich wieder Schlange, um den Ort zu verlassen. Schlange stehen. Das zieht sich als roter Faden durch den Abend. Schlange am Einlass. Schlange am Bierstand. Schlange am Merch. Schlange beim Rausgehen. Und zu wenig Personal, immer zu wenig Personal.
Als ich die Schlange an dem Stand sehe, an dem ich eigentlich meinen Pfandbecher abgeben wollte und die 20 Minuten überschlage, die ich hier dafür warten würde, lasse ich ihn auf den Boden fallen. Kein Bock. Und außerdem mein Quentchen Rebellion. Jaja.
Gute Reise, Lemmy.