
Mit einem Baby U-Bahn zu fahren ist ein heikles Unterfangen. Klar, oft klappt es und der Antichrist schläft spontan ein, denn das Wackeln der U-Bahn überträgt sich auf den Kinderwagen und wird zu einem entspannenden Schaukeln. Dann schläft der kleine Buddha, alles ist friedlich und die Welt in Ordnung.
Manchmal klappt das jedoch nicht, Koliken, zu viel respektive zu wenig Schlaf, zu hell, zu dunkel oder es steckt einfach ein Furz quer, dann schreit der Zwerg als würde man ihn gerade ans Kreuz nageln, aufschlitzen und ausweiden.
Ist das der Fall, schaut das Publikum mich hasserfüllt an als hätte ich gerade am Arsch des Zwergs mutwillig den Fliegeralarmknopf gedrückt oder würde wie einer dieser fürchterlichen Kirmesmusikanten, die nie merken, dass sie der Welt auf den Sack gehen, in der U-Bahn Trompete spielen. Heißkalt. Ich kann Gedanken fühlen wie Brennen auf der Haut: Wieso kriegt der eigentlich nicht endlich mal dieses Ding unter Kontrolle? Ich bin mit dem kleinen Brüllwürfel der Mittelpunkt der Bahn, schwitze Sturzbäche, trage während des so verzweifelt wie sinnlosen Versuchs, mein akustisch explodiertes Kind zu beruhigen, etwa 20 angewiderte Blicke als Last auf mir und weiß: Sie hassen mich – mit Ausnahme natürlich der Mütter, die mir komplizenhaft zunicken (denn sie wissen wie es in mir aussieht), und den Pennern mit der Straßenzeitung, die sich freuen, dass es gerade einen gibt, der noch mehr Abneigung auf sich zieht als sie.
Bitte, lügen wir uns nicht in die Tasche: Babygeschrei ist zum Kotzen. Mich nervt es auch. Es ist nicht süß, es ist nicht knuffig, es ist ekelhaft und das soll es auch sein, denn das infernale Geschrei hat die Funktion, den Eltern klar zu machen, dass etwas Existenzielles fehlt: In der Regel Essen. Oder irgendetwas anderes, das man nicht einordnen kann, was aber völlig unerheblich ist, denn in dieser Phase des Lebens ist alles existenziell. Auch ein Furz, den man mangels Kraft nicht aus dem Darm drücken kann.
Alle, die sagen, dass sie Babygeschrei nicht schlimm finden, heucheln, denn es ist schlimm. Richtig schlimm. Das Letzte. Jeder weiß das. Eltern auch. Glauben Sie niemandem, der sagt „Hach, daran gewöhnt man sich mit der Zeit, ich hör‘ das gar nicht mehr.“ Stimmt nicht. Ist gelogen. Schönfärberei eines unhaltbaren Zustands. Babygeschrei ist die Hölle. Mir rollen sich die Fußnägel hoch, das Adrenalin überschwemmt die Blutbahn mit der Wucht einer Gerölllawine und alle Härchen bis runter zur Kimme stellen sich aufrecht wie die Zinnsoldaten. Alarmzustand. Volle Aufmerksamkeit. Hallo Wach. Zum Kotzen. Ein ekelhaftes Geräusch. Dann lieber Kreissäge. Oder Laubbläser. Auspuffdröhnende Motorradwichser. Das Gewummer der Technoschnepfe über mir morgens um vier. Oder irgendetwas anderes aus dem unheiligen Arsenal der Lärmfaschisten.
So ist das, jeder ist froh, wenn so ein Baby mal die Backen hält, am allermeisten die Eltern. Ist dieser Zustand mit viel gutem Zureden, Summen, Wippen, Schaukeln und lächerlichem Im-Kreis-Drehen schließlich erreicht und der kleine Terrorist gibt endlich Ruhe, behandeln wir Eltern diese fleischgewordene Zeitbombe wie ein rohes Ei oder gleich wie eine unkonventionelle Sprengvorrichtung, die bei der geringsten Erschütterung hochgeht und allen in der Nähe wenn nicht die Trommelfelle, dann wenigstens die Nervenstränge zerfetzt.
U6. Auf dem Weg nach Hause über Wedding. Höhe Kochstraße. Mein Baby ist kurz vor dem Einschlafen. Ganz kurz davor. Es wimmert noch leise. Bald habe ich es geschafft. Durchatmen. Tick. Tack.
Ein Seufzen.
Einatmen. Ausatmen.
Noch ein Wimmern.
Dann keins mehr.
OOOOOOUUUUUUH LOOK!!! ITS A BABY!!!!
Was zum…? Touristen! Mit dem Kopf im Kinderwagen! Was zur…?
OOOOOOOOH GUTCHI GUTCHI GUTCHI!!! LOOOOOK! IT’S SOOOOOUUU CUUUUUUTE!
Rabäaäääh! Wääääääääääääääh!!! Rääääääääääääääääääääääh!
Das geht bis Wedding. Acht Stationen. Dann weiter mit der S-Bahn.
Rabäaäääh! Wääääääääääääääh!!! Rääääääääääääääääääääääh!
Schönhauser Allee die Treppe rauf. Weil der Fahrstuhl wie immer kaputt ist.
Rabäaäääh! Wääääääääääääääh!!! Rääääääääääääääääääääääh!
Bis rauf in die Bude.
Rabäaäääh! Wääääääääääääääh!!! Rääääääääääääääääääääääh!
Ich habe nichts gegen Touristen. Zumindest nichts, das wirkt. Honks. Dämliche. Glückwunsch.