Die Schere im Kopf

Klar hab‘ ich ’ne Schere im Kopf. Ich schreibe nicht alles das, was ich schreiben könnte. Möchte. Sollte. Müsste.

Ich würde ja zu gerne den Namen des Wohnungsaufkäufers nennen, der hier im letzten Jahrzehnt nahezu alle Bewohner meines Hauses ausgetauscht hat und das nicht immer mit Samthandschuhen. Ich habe das letzte Gespräch mit dem alten Mann geführt, der immer schon hier wohnte, als er zuletzt auf Krücken aus seiner Wohnung zog. Mit Zuckerbrot und Peitsche haben sie ihn klein gekriegt und aus seiner Wohnung bekommen, die sie haben wollten. Ein letztes Fossil aus einer anderen Zeit. Ich mochte ihn sehr. Jetzt ist er weg und seine Depression hat er mitgenommen in den Plattenbau. Kann er sich als Diagnose an die Wand hängen. Wenn er dort überhaupt einen Nagel reinbekommt.

Ja, doch, wirklich, ich hätte große Lust, ihn bei seinem Namen zu nennen, ihn, der meine Wohnung ein ganzes Jahr abdunkeln durfte, um noble Dachgeschosswohnungen über meinen Kopf zu bauen, in denen jetzt joghurtbecherspülende Arschlochfamilien wohnen, die Wir Sind Helden hören und seit ihrem Einzug die Mülltonnen kontrollieren, ob der Pöbel unter ihnen auch seinen Müll nach Vorschrift trennt. Klar, seinen Namen kenne ich, von ihm, der die Aufzüge gebaut hat, die nur ganz unten und ganz oben halten, weil der Rest aus den Zwischengeschossen genauso gut Treppen laufen kann, was wollen die denn, können froh sein, dass wir ihnen die Hütte aufgewertet haben. So wie das hier vorher aussah. Natursteine. Edelholz. Seid doch mal dankbar.

Nein, echt, ich würde ihn gerne hier reinschreiben, den Namen, seinen Namen, von ihm, der wie eine feiste Spinne mit Weste, Budapester und Taschenuhr als Karikatur seiner selbst nebenan im Café sitzt, Remoulade vom Lachsbagel in seinem Bart, und die Chancen auslotet, auch das Nachbarobjekt zu kaufen, das noch keine Dachgeschosswohnungen solventer Zweitwohnungsinvestoren als Dornenkrone trägt und in dem es tatsächlich noch Mieter gibt. Mieter. Und das hier. Diese Verschwendung tut ihm weh, man spürt das deutlich, wenn er den Kopf schüttelt und in sein Headset lamentiert, dass wieder einer partout nicht seine Wohnung räumen will. Ihm ist es immer zu wenig freier Markt.

Oh ja, ich würde verdammt gerne schreiben, wie ich manchmal davon träume, ihm, den ich mit dem Brustton aller Brusttöne Arschloch nennen würde wenn ich es dürfte, die verdammten Salzteigschilder, die jetzt ihre doppelt gesicherten Haustüren da oben im Dachgeschoss zieren, ganz tief in seinen Hals zu stecken bis er den täglichen Lachsbagel wieder auf das zugeschissene Trottoir erbricht.

Mache ich aber nicht. Würde ich nie tun. Nicht mal träumen. Natürlich nicht. Das tut man nicht. Würde ich nie. Tun. Darf man auch nicht. Ich bin Vater und Vorbild. Ich habe mich im Griff. Gewalt ist nie eine Lösung. Glauben Sie mir das.

Vielleicht habe ich ja auch eine Meinung zu ausgewiesenen Gefahrengebieten in deutschen Großstädten, dem Zustand der Postdemokratie als solche, dem ganzen grotesken EU-Moloch oder sowieso dem Verhalten der obersten Gesellschaftsschicht in diesem Land. Ja, stimmt, ich habe eine. Vielleicht schreibe ich sie aber nicht, zumindest nicht deutlich, etwas klausuliert, so dass ich später, wenn es zum Schwur kommt und man mir den Strick drehen will, behaupten kann, dass es ganz anders gemeint war. Im Zweifel ironisch. Ironisch geht immer. Ich bin wie ein scheiß Hipster, alles an mir ist ironisch, Euer Ehren. Schwöre. Herzlichen Glückwunsch, ich bin doch auch nur ein Honk. Blep Blep.

Seit letztem Jahr ist das klar geworden, was wir immer irgendwie geahnt haben: Sie schneiden alles mit. Alles was ich hier, was Sie hier schreiben, wird gespeichert. Jeder Kommentar unter diesem Text, alle Bankdaten, Flugdaten, Bestelldaten, Facebook, Twitter, Flattr, jeder Klick, jede App. Sie speichern alles. Ziemlich sicher mit zugehöriger IP-Adresse. Auf Terrabyteplatten. Petabytes. Exabytes.

Ich kann nur wenig dagegen tun. Mehrere E-Mail-Adressen unter mehreren Namen und ein Pseudonym habe ich. Klar. Mehrere Pseudonyme sogar. Überall. Bei jeder App. Jedem Account jedweden Anbieters. In jedem schwachsinnigen Forum, in dem ich angemeldet bin. Bei Facebook und Twitter bin ich gar nicht erst. Meinen echten Namen gibt es nirgendwo im Netz, außer bei Amazon, weil der Name eh auf der Kreditkarte steht, mit der abgerechnet wird. Und bei meinem Onlinekonto von der Bank, weil die blöderweise auch meinen echten Namen haben will.

Doch bis auf das Unumgängliche vermeide ich den Datenstriptease, zu dem man mich permanent nötigen will. Das klappt ganz gut. Würden Sie meinen Namen kennen und ihn googeln, würden Sie nur sinnlose Ergebnisse aus Telefonbüchern von Menschen bekommen, die im Schwarzwald wohnen. Oder im Erzgebirge. Rhön. Chisibubikaio. Mit Sicherheit auch ein paar Idioten, die ihre Klippschullaufbahn durch die Brettergymnasien von Flensburg bis Passau bei Stayfriends eingetragen haben. Welcher von denen bin ich? Keiner. Richtig? Nein? Bin ich doch einer? Man weiß so wenig. Vielleicht habe ich auch viele Fake Identities mit meinem Namen quer durch Deutschland und Polen gestreut. Falsche Spuren gelegt. Paranoia? Auf jeden Fall. Doch vor gerade mal einem Jahr wäre noch jeder paranoid genannt worden, der von einer flächendeckenden Überwachung der ganzen Welt durch die NSA schwadroniert hätte. So schnell schlägt Paranoia in Fakten um.

Doch halt, was ist das eigentlich, was ich hier mache? Hier in diesen Blog fließen Gedanken ein, die ich habe, sonst könnte ich sie nicht schreiben, doch sind das überhaupt meine? Wer bin ich? Schreiben hier mehrere? Oder doch nur einer? Wer weiß das schon? Und meint der das so, wie er es schreibt? Ist er überhaupt ein Er? Oder eine Sie, die vorgibt, ein Er zu sein? Was wissen wir denn? Kinder. Bürojob. Sport. Alkohol. Frisst gern. Gay West hat er in der Blogroll. Ist er schwul? Ist sie lesbisch? Und in welcher Beziehung steht er (sie) zum LandLebenBlog aus dem Odenwald? Verwandtschaft? Man weiß so wenig. Oder zum Nachtwächter aus der Blogroll? Zum Hirnficker? Oder zu dem Typ, bei dem alles weg muss?

An anderer Stelle kann jeder sehen, was ich gerade für Musik höre. Dieses Avatar sammelt die ganze Musik, die ich höre. Unterwegs vom Smartphone, im Zug vom Pad, zuhause vom PC. In Echtzeit. Das ist ungeheuer praktisch. Der Anbieter analysiert meinen Musikgeschmack, erstellt eine persönliche Musiksammlung, die er rastert, durchkaut und aus der er Rückschlüsse zieht. Dabei macht er mir Vorschläge für Interpreten, die ich noch nicht kenne, weil er weiß, was ich so alles noch nicht gehört habe. Hey, und ich höre viel Musik. Ich liebe dieses Tool, das mich ausforscht wie kein zweites. Ich weiß nicht, ob das bekannt ist, aber aus dem Musikgeschmack eines Menschen können Psychologen charakterliche Rückschlüsse ziehen. Viel Spaß. Pro-Pain. Marilyn Manson. Fliehende Stürme. Also ich würde mich nicht einstellen, wenn ich Sie wäre.

Natürlich kennt auch dieser Anbieter meinen echten Namen nicht, ich heiße dort Mongo vom Kongo, Bingo vom Gringo oder Mork vom Ork, identifiziert mit einer Wegwerf-E-Mail-Adresse wie ich viele von ihnen habe, scheißegal, mein echter Name geht ihn einen Dreck an, den schütze ich wie es mir möglich ist, auch wenn ich weiß, dass mir die Pseudonymwichserei nicht viel bringen wird, wenn es mal hart auf hart kommt. Sie können mich auch über die IP-Adresse vom Server von Vodafone (oder 1&1, Telekom, O2, na wo denn jetzt?) finden und drankriegen, wenn sie es wollen. Und hey, sie können mich immer drankriegen, wann sie wollen, dagegen kann ich nichts tun. Bitchmove.

Überhaupt kann niemand etwas dagegen tun, kein CCC, kein Fefe, kein Politblogger, kein wütender und auch kein nüchterner Programmierer, kein Sascha Lobo, keine Anne Roth, ich (wir) erst recht nicht, niemand. Wir können alle nur quatschen was die Tastatur hergibt, mal mit mehr Publikum, mal mit weniger. Und am Ende wählt uns die Landbevölkerung, die Bild und SpiegelOnline, aber sicher nicht uns liest, die CDU (oder schlimmer: die SPD) vor die Nase. Und dann gilt, was immer gilt: Wenn sie mal Fefe drankriegen wollen, weil er doch mal zu gefährlich wird, werden sie es tun können. Ungestört. Auf die Art wie sie es wollen. Hart oder als Warnschuss. Da können wir alle schreiben, was wir wollen, es wäre nur ein Shitstorm unter unzähligen anderen täglichen Shitstorms, die keiner mehr ernst nimmt. Wir haben keine Chance.

Denn ehrlich: Wer sind wir eigentlich? Doch auch nur Panflötenindianer, die so lange flöten dürfen wie es harmlos ist und keinem weh tut. Wird der Panflötenindianer gefährlich, nehmen sie ihn mit und machen ihm die Butze dicht. Weil er dann die öffentliche Ordnung stört. Nur wer die nicht stört, darf weiterflöten. Künftig vielleicht sogar mit formeller Genehmigung, so wie das Panflötengedudel auf dem Alexanderplatz der Pflicht zur Genehmigung einer Sondernutzung durch das Ordnungsamt unterliegt. Sie wollen einen Blog betreiben? Füllen Sie bitte hier das Formular zur Sondernutzung des Internets aus und ziehen Sie Ihre ID-Card durch, auf der Ihr Fingerabdruck gespeichert ist. Diese Genehmigung wird bis auf Widerruf erteilt und unterliegt dem Verwaltungsrechtsweg. Im Auftrag. Unleserlich.

Kommen wir zurück zum Thema und machen wir uns dabei nichts vor. Dieses Wissen, dass alles mitgeschnitten wird, führt unweigerlich zur Schere. Außer vielleicht bei denen, denen alles egal ist.

Mir ist nicht alles egal. Ich schreibe so, als wäre denen, die das Netz rastern, bekannt, dass ich das bin, der da schreibt. Das ist wahrscheinlich auch so. Ich wäge ab, ich überlege, was ich bringen kann und was nicht und schreibe so, dass ich einem Gremium, das darüber befindet, ob ich meinen Job oder meine Kinder verliere, diese Texte mit dem Schalk im Nacken erklären kann, wenn mich das Gremium danach fragt. Hey, ich mach‘ doch nur Spaß. Satire darf alles. Und Überspitzung ist ihr Mittel. Ja? Mache ich das? Ich weiß es nicht. Nein, nicht. Oder doch? Vielleicht. Vielleicht nicht. Ich weiß es doch auch nicht. Und wenn ich es nicht weiß, wer weiß es dann?

Vielleicht ist ein Mittel gegen die Komplettüberwachung das, was ich Datenverwirrung nenne. Pseudonyme. Fakes. Nebelkerzen. Einfach nicht mit der eigenen Person im Netz stattfinden. Es muss so viele widersprüchliche Informationen geben, dass kein Algorithmus der Welt das vernünftig rastern kann. Wer heute noch mit dem Realname unterwegs ist und den ganzen Digitalscheiß, in den sie uns alle einweben wollen, mit seiner wirklichen Person identifizierbar verknüpft, ist am Ende nackig, ausgeliefert und schutzlos. Alle, die das nicht tun, fliegen zunächst einmal unterm Radar und man kann sie nicht so leicht greifen – mit ihren vielen Identitäten, vielen Avataren, vielen Profilen. Vielen Statements auch. Denn habe ich überhaupt eine Meinung? Nein, ich habe viele Meinungen, die reinste Meinungskakophonie. Die arme Sau, die das rastern muss. Das Persönlichkeitsprofil als moderne Kunst.

Vielleicht ist das alles mit der Überwachung ja am Ende auch gar nicht so schlimm und es sitzen nur zwei mäßig intelligente Auswerter in einem muffigen Kellerloch vor Monitoren herum und machen vor lauter Langeweile Stichproben: „Wer is dat denn? Stevenson? Is dat nich der, der Robinson Crusoe geschrieben hat? Komm, wir schaun mal besser in seinen Messenger rein. Hehe, kuck mal, der will morgen Rehrücken kochen. Tiefgekühlt vom Supermarkt. Der Depp. Kennt der keinen Jäger, der ihm einen frischen schießt? Ach klar, kuck mal wo der herkommt. Berlin. Na denn is klar. Mach zu den Vorgang, der is kein Terrorist, nur blöd.“

Was bleibt? Hilft das, was ich da tue? Bringen es Pseudonyme? Unter dem Radar fliegen? Kann ich nicht sagen. Ich weiß es mal wieder nicht. Bin ja auch kein Seher. Sondern hilflos wie alle.

So bleibt zuletzt ein Trost und es ist der Trost, der immer bleibt, wenn alles den Bach runtergeht: Die Gedanken, die sind immer frei. Lasset uns flöten.