Suicidal Tendency: Winter in Hohenschönhausen

Im harten Osten. Hohenschönhausen. Der Eiswind fräst Furchen ins Gesicht. Fassaden so grau wie der Himmel wie die Gesichter. Und das Linden Center schafft es, noch hässlicher als seine benachbarten Plattenbauten zu sein.

Wenn man die in Vollkommenheit harmonierende Tristesse der Umgebung erfolgreich mental überwunden hat, ohne sich vor die Gleise der Straßenbahn zu werfen, ist man stabil genug, das Einkaufsparadies von Ronny (Enrico, Ricardo, Maik mit ai) und Schantalle (Schakelyne, Schakyra, Scheyenne) zu betreten, zum Beispiel um neue Laufschuhe zu kaufen.

Es ist ein Wochentag um 10 Uhr und hier wird Reality TV gegeben. In den Gängen lungern sinnlos Schulschwänzer herum, die die Schule schwänzen und an einer bildungsfernen Karriere im Dunstkreis von Sozialtransfers basteln. Schnellfickerhose. Schnellfickersneakers. Schnellfickerbasecap. Und Brandenburger Bicolore: Schwarze Haare, platinblonde Strähne. Oder rot. Oder umgekehrt. Hauptsache so bunt wie die aufgeklebten Fingernägel.

„Eeeey Schakälyne du hässliche Fotzeeeee kiek ma ick kanne Dose anna Stian zadrückn’na!“ Spricht’s und hat kurz darauf einen roten Abdruck auf der Stirn. Und eine zerknautschte Dose Red Bull in der Hand. Stolz. Bolle. Allein, für den Zirkus reicht das nicht.

Wahrscheinlich sind die alle schon blau um diese Uhrzeit. Früh übt sich. Das Vorbild sitzt zuhause im Jogginganzug vor RTL 2 und spricht um diese Uhrzeit schon bei Kaffee und Wilthener Goldkrone mit seinen getrockneten Popeln unter dem Sofa. Oder sperrt die Alte nackt auf den Balkon, weil der Kirschlikör alle ist und die Schlampe immer noch nicht bei Lidl war und neuen geholt hat.

Ich fühle mich verloren und suche verzweifelt einen Lageplan oder einen Wegweiser, der mir hilft, den Weg zu Runners Point zu finden. Gibt’s nicht. Oder seh‘ ich nicht, keine Ahnung. Also irre ich erst durch alle Etagen außer der, in der Runners Point wohnt, nur um am Schluss des Kreuzwegs dorthin zu finden, wo ich von Anfang an hinwollte. Natürlich.

Vielleicht ist das ja auch gewollt, dann sieht es nämlich so aus als würden viel mehr Menschen hier einkaufen als es tatsächlich tun, dabei suchen sie nur. Raffiniert ist das, denn Leerstand kills Attraktivität, weil Ödnis frightens Mietinteressenten, und deshalb irren hier alle, die ich so sehe, sinnlos auf der Suche nach Douglas, Media Markt oder Aldi durch die Gegend wie ich und hoffen, irgendwann doch mal anzukommen. Mit Ausnahme des Schnellfickerclowns und seines Publikums. Die sehen so aus als wohnen sie hier in ihrem Einkaufszentrum und verlassen es nur, wenn das Red Bull alle ist. Oder das Sternburg.

Und jene, die hier ohne ihr Ziel zu finden herumirren, kaufen unterwegs vor lauter Lebenszeitverschwendung nutzlosen Mist ein, der ihnen auf dem Weg feilgeboten wird – einfach weil er da ist. Und das generiert wieder einen Umsatz, den es gar nicht gäbe, würden sie Wegweiser aufstellen. So gesehen schließt sich der Kreis. Ein Fuchs, der sich das einfallen ließ.

Am Ende bin ich froh, wieder in der Bahn zu sitzen ohne mich im langen Schatten dieses depressiven Einkaufsbunkers vor eine solche geworfen zu haben. Banlieue. Wenn es irgendwann nicht mehr für das Einkaufszentrum reicht und Sternburg, Kirschlikör und Red Bull unerschwinglich werden, fliegt dem Land diese Vorstadt um die Ohren.