Retrospektive: Der liderliche Charakter

Ich sitze im Mauerpark und hänge meinen Gedanken nach. „Steck das Hemd in die Hose, das sieht liderlich aus!“ ruft eine Mutter ihrem Kind zu und zerrt es über die Pflastersteine.

Liderlich.

Das uralte Wort hat sich bei mir eingebrannt.

Du bist ein liderlicher Charakter.

Das hat mal ein Lehrer zu mir gesagt, als ich wieder einmal spät gegen Abend beim Nachsitzen saß und das Klassenzimmer aufräumen musste, weil ich den Unterricht gestört habe.

Du führst Krieg gegen die Schule, haben sie gesagt. Den wirst du verlieren, haben sie hinterher geschoben. Wir kriegen dich klein. Wir biegen dich. Wir beugen dich. Das haben sie gemeint.

Die Söhne der Zahnärzte und Anwälte haben oft nach der Schule auf mich gewartet. Zu acht. Mit Mofas. Ich hatte nur ein Fahrrad und nie eine Chance. Sie haben mich geschubst. Sie haben mich geschlagen. Ich habe dem, der sie angeführt hat, in der Panik einen Zahn ausgeschlagen. Es war ein schöner Anblick, sein überraschtes Gesicht, das Blut auf seinem Hemd. Die totale Stille nach dem Schlag.

Dafür haben sie mich von der Schule geworfen. Es stand fest, dass ich angefangen habe.

Die Töchter der Zahnärzte und Anwälte haben mich nie geschlagen und geschubst. Sie haben „Iiihh!“ und „Bäääh!“ gerufen, wenn sie mich gesehen haben. Seltsamerweise war das schlimmer als geschlagen zu werden.

Ich bin oft geflüchtet. An Orte, an denen es schummrig war, an dunkle Orte, an dreckige Orte, da wo die saßen, die so waren wie ich. Dort haben sie mich nicht geschubst. Sie haben mir zu trinken gegeben. Und zu rauchen. Die Polizei hat mich immer wieder eingesammelt und dorthin gebracht wohin ich nicht wollte. In die Schule. Oder nach Hause.

Zuhause war Krieg. Schule war Krieg. Ich war im Krieg. Permanent-Krieg. Ohne Waffenstillstand. Sie wollten mich kaputt machen. Mich erledigen. Ausrotten. So habe ich das gesehen.

Ich habe mir die Haare abrasiert. Mir die Jeans mit der Schere zerfetzt. Mit Edding die billigen weißen Turnschuhe bemalt. Mein T-Shirt bemalt. Wodka geklaut und getrunken. Drogen geschnorrt. Gesprayt. Dinge kaputt gemacht. Mit anderen kaputten Seelen Tag um Tag verschenkt. Mit 14 haben sie mich orientierungslos weit nach Mitternacht irgendwo in einer Häuserschlucht aufgegriffen. Es war ein Fehler, den Schülerausweis dabei zu haben. So haben sie schneller herausgefunden, wer ich bin. Und mich wieder zurück gebracht. In den Krieg.

Heute, wenn ich hier im Freien sitze und mir der Herbstwind ins Gesicht weht, ist das alles so weit weg. Heute bin ich Vater. Ich bin mit mir im Reinen. Ich kann zurückschauen ohne dass es mir das Herz zerreißt. Ich habe viele Tränen in viele Gläser mit Bier geweint. Ich habe alles gewälzt und gedreht, analysiert und aufgearbeitet, es ist verheilt und verdaut. Es geht mir gut. Alles ist gut. Ich bin stark. Ich bin ruhig. Keiner kriegt mich mehr kaputt, wenn ich es nicht zulasse. Meinem Kind möchte ich einen Ort bieten, an dem es geliebt wird. Ein Kumpel möchte ich sein. Und ein Beschützer. Ich will alles anders machen.

Mit 15 hatte ich mein erstes Ermittlungsverfahren. Sie haben mich einmal mehr gefunden und in die Schule gebracht. Ich habe mich gewehrt. Sie haben mich ins Klassenzimmer getragen. Ich habe einen Mülleimer durch ein Fenster geworfen. Und einen Stuhl hinterher. Setz dich hin. Nein. Setz dich hin. Nein. Sie haben mich festgehalten. Runtergedrückt. Zu dritt. Im Schwitzkasten. Damit ich mich auf den Stuhl setze – so wie sie es gesagt haben.

Dafür gab es eine Anzeige. Für mich. Irgendjemand hatte einen blauen Fleck davongetragen.

Dieser Druck. Wer nicht funktioniert, bekommt Druck. Immer nur Druck. Sie hatten kein anderes Mittel. Und niemand hat je gefragt.

Ich hätte geantwortet.

Ehrlich.

Wenn irgendwer gefragt hätte.


Retrospektive: Der Azubi – Frisch aus der Kneipe