Retrospektive: Einbrecher und Pillendieb

Ich bin einmal eingebrochen. In eine Wohnung. Und hab‘ was geklaut. Vorsätzlich.

*ring*

„Stevenson?“

„Alter, du musst kommen, Selena will sich umbringen.“

„Das will sie immer. Wo ist die Neuigkeit?“

„Diesmal isses ernst. Das Pillenglas ist weg.“

„Was für ein Pillenglas?“

„Sie hat die ganzen Jahre ihre Psychopharmadingsda gesammelt. Und alle anderen Pillen, die man ihr sonst so verschrieben hat. In einem Einmachglas. Ihr Schlussmach-Glas. Ihr Notausgang. Sie hat immer gelabert, dass sie die ganzen Scheißdinger irgendwann mal auf einmal nimmt. Und das Teil ist jetzt weg. Und Selena auch.“

„Wo kann sie sein?“

„Bei Marina.“

„Und dann nehmen die das ganze Zeug zusammen? Verarsch mich, Alter.“

„Ich verarsch dich nicht und du weißt es. Vielleicht sitzen sie wieder auf dem Friedhof rum, ballern sich Mut an und danach kommen die Pillen. Oder Marina weiß nix davon und die Dinger sind in Selenas Tasche, was weiß ich. Wenn die also auf dem Friedhof sitzen, können wir in Marinas Wohnung rein und das Scheißglas in der Spree versenken. Und wenn die Pillen da nicht sind, gehen wir zum Friedhof und checken da. Komm vorbei, Alter…“

So war das. Keiner da. Angeklapptes Fenster ausgehebelt. War alt. Kein Problem. Pillenglas auf dem Couchtisch zwischen Bierflaschen und abgebrannten Spliffs gefunden. Eingepackt. In der Spree versenkt. Durchgeatmet. Saufen gegangen. Es war damals so schwer, zwischen Emo und tatsächlicher Selbstmordabsicht zu unterscheiden. Einer ist schon den Weg auf die andere Seite gegangen, weil wir ihn nicht ernst genommen haben. Fließende Grenzen und so. Emo. Ritzen. Borderline. Upper. Downer. Lachen. Weinen. So viel Gefühl und so verdammt schwer, sich richtig zu verhalten. Das wird heute nicht anders sein. Jung sein ist oft kompliziert und nie so einfach wie es in der Rückschau wirkt, wenn die Sepiafilter die harten Farbtöne abmildern.

Selena lebte noch mindestens so lange weiter wie ich sie kannte. Ich habe sie vor 12 Jahren zuletzt gesehen. Auf einer Party. Sie hatte einen Freund. Endlich mal einen netten. Und sie war tatsächlich glücklich. Irgendwie. Auf ihre Art.

Vielleicht haben wir ja dazu beigetragen. Zu ihrem Glück. Indem wir etwas verhindert haben, das passiert wäre.

Vielleicht auch nicht und wir haben überreagiert. Wer weiß schon immer was richtig ist …?


Retrospektive: Chaostage