Liebe Nichtwählerinnen und Nichtwähler

Liebe Nichtwählerinnen und Nichtwähler,

es ist ein großartiges Ergebnis und wir können stolz sein. 28,5 %, wer hätte das vor ein paar Wochen gedacht? Hinter uns liegt eine Schmutzkampagne wie sie ihresgleichen sucht. Wen haben sie da alles aufgefahren? Mario Barth. Roland Kaiser. Joko & Klaas. Sarah Connor. Gewerkschaftszombies. Den alten Edmund Stoiber. Irgendwelche abgehalfterten Topmodel-Sirenen aus Heidi Klums Abstellkammer. Lebt Kader Loth eigentlich noch? Sie hat gefehlt.

Und was haben sie geschimpft, als fühlten sie sich durch Nichtwähler persönlich beleidigt: Wer nicht wählt, ist asozial und soll die Fresse halten.

Ja, das war starker Gegenwind, gegen den wir anrennen mussten: Werbespots wie für Faltencreme oder die neue Show von Cindy aus Marzahn, die Arschlochzeitung mit den großen Buchstaben im Briefkasten, Radioaufrufe, Hasstexte in den Medien, sei kein Frosch, geh wählen – vor dieser Drohkulisse sind 28,5% Nichtwähler ein Achtungserfolg, der sich sehen lassen kann.

Und nein, es sind nicht nur die Dummen, die nicht mehr hingehen, er kommt aus der Mitte der Gesellschaft, der Widerwille, es seid ihr, es bist du, es bin ich, und deshalb haben sie so Angst. Weil es eben auch nicht mehr die frustrierten Weltverbesserer sind, die seit fünfzig Jahren erleiden müssen, dass Deutschlandketten mehr Menschen überzeugen als suizidale Griechen, nein, es ist die Mitte, Familienväter, Abiturienten, Blogger, die sich fragen, was das alles noch soll.

Texte über Texte habe ich gelesen, in Blogs, in Nischenzeitungen, von Intellektuellen, klugen Menschen, angewiderten Bloggern, die nicht mehr wählen wollen und über die im Mainstream stets nur kübelweise Hohn und Spott und Hass ausgegossen wird wie über den Klassen-Emo, der nicht mit zum Wandertag will – anstatt sich die Frage zu stellen, warum so viele nicht mehr mitspielen wollen, worin der Verdruss denn seine Ursache hat.

Sicher, es sind 0,7 Prozentpunkte weniger als 2009, wir haben leichte Verluste erlitten, deren Ursache wir in den nächsten Wochen analysieren werden müssen. Vielleicht war es die Tatsache, dass mit den Piraten und der AfD zwei neue Player auf der Bühne auftraten, die so taten, als würde es etwas ändern, wenn man sie an die Tröge wähle oder vielleicht hat ja auch der eine oder andere gedacht, die Linken würden, wenn sie denn einmal an der Regierung sind, weniger hässlich regieren als in den zehn Jahren in Berlin unter Wowereit bis 2011.

Am Ende war es wahrscheinlich Mario Barth, der in Marzahn-Hellersdorf ein paar Stadien voller Ungebildeter mit BFC-Freikarten, Sternburger und Hundekuchengutscheinen in die Wahllokale gelockt hat und so für die 0,7 Prozentpunkte verantwortlich zeichnet.

Halten wir also fest: Um 0,7 Prozentpunkte war die Wahlbeteiligung höher als das historisch niedrige Ergebnis dieser Zumutung von Wahl 2009, an der ich zum ersten Mal nicht mehr gefolgt bin, als sie mich zur Urne riefen. 0,7 Prozentpunkte mehr Wähler haben sie zur Legitimierung der Farce ins Wahllokal gepresst – und sie feiern diese Steigerung wie einen Erdrutschsieg. Wie weit kann Realitätsverleugnung gehen?

28,5%, Freunde. Darauf können wir aufbauen. Die nächsten Jahre werden pechschwarz, auch wenn die vereinten Boulevardmedien von Spiegel bis Bild es leider nicht ganz geschafft haben, die CDU und ihre Ikone zur absoluten Mehrheit hochzujubeln. Das ist sehr schade, denn die absolute schwarze Mehrheit als Medienprodukt einer unkritischen Hofpresse wäre ein wunderschöner, unschlagbarer und endlich mal sichtbarer Ausdruck der real existierenden Postdemokratie gewesen, die der Grund ist, warum wir so satt sind.

Aber ich sage euch jetzt schon: Die nächsten Jahre werden uns gehören. Sie werden geprägt sein von einer CDU und ihrem völlig irrationalen Personenkult, die den ganzen Kontinent an die Wand fahren wird, und von einer sekundierenden SPD, die immer sekundiert, wenn man sie zum Sekundieren braucht.

Und auch wenn die schlimmen Karikaturen von der FDP nun nicht mehr ihren Hintern im Plenarsaal breitsitzen werden, sind die Vorräte an politischem Personal, das nicht mal mehr so tut, als hätte es jemals Moral und Anstand gehabt, auch ohne sie unerschöpflich.

Freunde, die 30% Nichtwähler sind in greifbarer Nähe, danach packen wir das Drittel und dann lasst uns die 40 reißen. Liebe Nichtwählerinnen und Nichtwähler, wir werden wieder mehr, das sehe ich kommen, da hilft auch kein Bashing, keine teure Werbekampagne, keine billigen C-Promis, keine Drohungen mit Wahlpflicht, keine Beschimpfungen und keine Ausgrenzungen.

Ich danke euch.

(Beifall)