Bukarest. Novosibirsk. Grosny. Greifswalder Straße

Es riecht nach warmem Regen vom staubigen Asphalt der Greifswalder Straße, als ich aus der Straßenbahn zur Unterführung zum S-Bahnhof hinabsteige. Sie, die Unterführung, präsentiert sich mir wie immer in ihrem düsteren marmoresken Schmuddelkleid als ewig anachronistisches Relikt, an das seit gefühlten 50 Jahren keine handwerkende Hand mehr gelegt wurde. Ein vergilbtes Schild weist den Weg zur Straßenbahn Richtung „Zentrum“, mit einer gewissen Nachlässigkeit darauf beharrend, den Weg dorthin zu weisen, was sich heute „Mitte“ nennt.

Die durchgelatschte Steintreppe führt zum rostbraunen und in seiner himmelschreienden Hässlichkeit fast schon wieder retromäßig hübschen Eingangsportal, an dem immer einige Durchgangstüren verschlossen sind, zumeist die meine, durch die ich verschwinden will, wenn ich vor den Drückern vom Roten Kreuz, der Berliner Zeitung und dem Tierschutzverein flüchte, aber dann doch vor verschlossener Tür eingefangen werde: „Guten Tag, finden Sie nicht auch, dass man Tierversuche verbieten sollte?“

Ich starre in den wässrigen Blick eines Golden Retrievers mit Schläuchen hinter den Schlappohren.

Es stinkt nach Döner.

Und Hähnchen.

Und nassem Hund.

Der Vietnamese mit seinen geschmuggelten Zigaretten lacht und zündet sich eine an. Bei McDonalds stehen die Schulschwänzer und das Hähnchen gegenüber wird mit „spezieller Marinade“ beworben. Ich muss nicht alles wissen.

Eine Zeitung weht vorbei, gefolgt von einem Taschentuch und Zigarettenstummeln, der Boden ist immer speckig, sowieso: Der Eindruck ist ein vergessener, nur reine Durchgangsstation ohne Aufenthaltswert, eine Trinkhalle fehlt hier noch, zur Vervollständigung der prekären Aura und zur Konzentration derjenigen, die orientierungslos und meist entgegen des Verkehrsstroms umherirren.

Aldi ist auch hier.

Ein Gefallener spricht mich an. Das Jobcenter möchte nicht mehr zahlen, ich könne vielleicht einspringen?

Oben auf dem Bahnsteig überlege ich, wann ich zuletzt Optik von solch pompöser Trostlosigkeit habe sehen müssen und erinnere mich daran, wie ich einst östlich des Alexanderplatzes im Schatten grauer Plattenbauten auf der Suche nach Nahrung war – vor dem Fall der Mauer, als sie noch nicht bunt angemalt waren, die Platten.

Bukarest.

Novosibirsk.

Grosny eher.

Mein Blick trifft die Ruine eines ehemaligen Güterbahnsteigs, in der vor vielen Jahren ein Teppichhändler wirtschaftlich gegen die Wand fuhr und in deren verfallenen Mauern sich seitdem nichts mehr rührt, außer denen, die sonst keinen Platz mehr in der Stadt finden und dort schlafen. Die Fenster sind eingeschlagen, die weiß getünchten Ziegelwände bunt bemalt, daneben düstere graue Bahnanlagen aus der Vorwende, passenderweise einem Betonproduzenten und seinen schäbigen Silos als Umschlagplatz zugeteilt. Viel Gleis, viel Raum, doch auch viel Stahl, Beton und Stein, nur gelegentlich, fast wie ein Irrtum zwängt sich Grün zwischen verfallene Industriegebietsromantik.

Jetzt wollen sie auch hier bald Townhäuser hochziehen. Was den Zustand noch verschlimmern wird. Aus Ödnis wird Wüste. In pastell.

Zugig ist es immer, auch wenn die S-Bahn nicht fährt. Hier unterm Wellblech.

Ein Imbiss hat es hier oben mal versucht und es nicht geschafft. Keine Currywurst mehr am Bahnsteig. Nur noch ein Automat, der alte Gummibärchen feilbietet. Und Schwangerschaftstests. Capri Sonne. Sonst Leere.

„Infect“ lautet die Botschaft eines Graffito, zwischen Lüftungsrohren und dem unablässig bröckelnden Putz. Nein, nicht Infekt, denke ich, Wachkoma, Endstation, Krankenhaus-Abnippelabteilung, und freue mich, als die S-Bahn einfährt und mich von hier fort bringt.

Es braucht solch einen Ort, um bewusst zu halten, wie schön es anderswo ist.