
Ich habe mein Profil auf der Bewertungsplattform Qype gelöscht.
Diese Information ist im Grunde nicht wertvoller als ein Fliegenschiss im Wind, aber dennoch schwingt nach genau drei Jahren etwas Wehmut mit, so ein beknacktes Internet-Avatar nach 666 Beiträgen einfach auszuknipsen. Scheiß Sentimentalitäten, aber ich habe mich an dieses Alter Ego, diese abgespaltene Persönlichkeit, diese virtuelle Existenz, wohl irgendwie gewöhnt. Es ist ein bisschen wie wenn man einen vollverkrebsten Bernhardiner einschläfern muss, der einem ans Herz gewachsen ist. Schwerer als man denkt. Aber notwendig.
Flashback
Qype war mal ein sehr lustiges Portal, denn dort sammelten sich viele merkwürdige Leute mit ihren merkwürdigen Marotten:
Da war zum Beispiel derjenige mir persönlich völlig Unbekannte, der sich bei mir in den Urlaub abmeldete und mit wichtigem Duktus kundtat, dass es deswegen die nächsten paar Tage keine Beiträge mehr von ihm geben würde.
Meine Güte, was werde ich nun tun? Eine Woche nix mehr zu lesen von ollipopanz547. Wie soll ich weiterleben?
Dann kam der, der mich in seiner hilflosen Suche nach Bataillonen in hysterischer Tonlage um Beistand bat, weil ein anderer einen bösen Kommentar unter seinen nicht minder bösen Beitrag geschrieben hat.
Bitch please, ich hätte viel zu tun, würde ich wegen jedem Diss in der Kommentarleiste den Dschihad ausrufen. Muss man sportlich nehmen und die Prügel wegstecken wie ein Kerl. Und wer austeilen kann muss immer auch einstecken können, sonst sollte er das Austeilen lassen.
Oder der Kirchenmann, der – nachdem er alle Kirchen seiner Stadt, des Umkreises und seines Bundesstaats beschrieben hatte – dazu überging, ein fürchterliches graues Bürogebäude nach dem anderen zu kategorisieren, zu bebildern und zu beschreiben, deren trister Anblick schon im realen Leben eine Qual sein muss.
Ich habe ihm empfohlen, danach Stromkästen, Funkmasten und Hochspannungsleitungen zu beschreiben, um weitere Alleinstellungsmerkmale zu sammeln. Er fand das nicht witzig und nahm sehr übel.
Da war auch noch der Kollege, der dreimal in hochoffiziellem Tonfall mittels Rundmail ankündigte, dass jetzt nun langsam Schluss mit Qype sein müsse, bevor sein ganzes Privatleben den Bach runtergeht, nur um jedesmal vier Tage später wieder mit vielen neuen Beiträgen aufzuwarten.
Jetzt neu im Buchhandel: Fick das Portal. Raus und rein und raus und rein.
Oder derjenige Held der Arbeit mit einer unglaublichen Lesegeschwindigkeit, der auch Beiträge mit 10.000 Zeichen eine Minute nach Erscheinen mit „Gut geschrieben“ verkomplimentierte.
Ich hab mich immer gefragt, ob der Kerl den ganzen Tag F5-drückend vor dem Microfeed sitzt. Sein Zeigefinger muss eine unglaubliche Hornhaut haben. Oder das mit den Sofortkomplimenten war ein Skript.
Besonders witzig war auch derjenige, der alle seine Kontakte in einer Rundmail nötigen wollte, mehr auf seine Beiträge zu klicken, weil ihm das Feedback zu wenig war. Und wer das nicht machen würde, den würde er aus seiner Kontaktliste löschen.
Ach ja, die gute alte infantile Brechstangenmethode von Menschen, die ihre Existenz ins Internet verlagert haben: „Ich brauche Zuneigung. Hab mich lieb, gefälligst, jetzt, aber dalli! Oder ich stampfe mit dem Fuß auf! Das habt ihr dann davon.“
Oder da gab es auch noch den, der in einem Kommentar die mangelnde Lustigkeit eines Beitrags beklagte und drohte, wenn das so weitergehe, würde er mich nicht mehr lesen.
Holy fuck, das war’s, saß ich seinerzeit konsterniert da und betrank mich hemmungslos, jetzt bin ich echt im Arsch. Poperze79 will mich nicht mehr lesen. Wie soll ich weiterleben?
Besonders drollig war auch derjenige, der mich beauftragen wollte, ans andere Ende der Stadt zu fahren, dort eine besonders miese Currywurst zu essen und zu seiner Erbauung einen zotigen Beitrag über dieses Stück Fleischabfall zu schreiben.
Sicherlich habe ich sonst nichts zu tun und fahre immer gerne mit Absicht an füchterliche Orte wie die Autobahntankstelle Fläming in Brandenburg, nur um über die gebührenpflichtige Pachttoilette einen Beitrag zu schreiben, über deren kodderige Klofrau sich mein Nachbar neulich aufgeregt hat. Sicher.
Kaum zu toppen war auch derjenige, der wissen wollte, warum ich bei einem seiner fünfundsechzig Beiträge von letzter Woche nicht „Gut geschrieben“ geklickt habe und ob ich ihn jetzt nicht mehr leiden mag.
Das mag ungewöhnlich klingen, aber es gibt auch ein Leben an der frischen Luft, das ist das, wo dieses komische helle Kugelding am blauen Himmel scheint und das Grüne ist das Gras, von dem aus man besonders gut in diesen lustigen blauen Himmel schauen kann, Musik im Ohr und Bier in der Hand.
Soweit zu merkwürdigen Menschen und ihren merkwürdigen Marotten.
Es wurde jedoch auch Tragikomik gegeben und zwar in Form dieser mit der Zeit immer weniger werdenden Benutzer-Fossile, in der Regel altgediente Enthusiasten aus den Anfangszeiten, die viele Jahre lang verzweifelt versuchten, diese völlig verbuggte Plattform aus der Froschperspektive heraus weiterzuentwickeln und in den verwaisten Foren von den Verantwortlichen fast schon vorsätzlich und genussvoll ignoriert wurden.Diese Don Quichottes im Quadrat mit einem unbestreitbaren Hang zur Selbstaufgabe mussten Jahr für Jahr zusehen, wie ihre Plattform immer unübersichtlicher und damit immer weniger für den eigentlichen Zweck brauchbar wurde. Dafür wurden sie dann für ihre vielen rhetorisch wertvollen und ausgesprochen hilfreichen Beiträge mit virtuellen Medaillen wie „Döner Lover“ oder „Stäbchenesser“ verhöhnt, wobei sich da nur die Frage stellt, ob das noch zynisch ist oder schon Trash.
Geändert hat sich diese Ignoranz bis zuletzt nicht. Im Zuge der Übernahme durch das amerikanische Konkurrenzportal Yelp brannten vielen Schreibern wichtige Fragen auf den Nägeln: Werden lange Beiträge gekürzt? Bilder übernommen? Was macht der Yelp-Filter mit Explicit Language (es sind immerhin prüde Amerikaner, die nun am Ruder sind)? Die Antwort der Verantwortlichen war nur: Das können wir nicht sagen, aber es bleibt spannend.
Bitte gehen Sie weiter und bleiben Sie ruhig. Es gibt nichts zu sehen.Die Stümperei und die fehlende Sozialkompetenz hat zwar Methode, führt jedoch immer ins Abseits. Beobachtet man die Entwicklung anderer Web 2.0-Fossile und die Konsolidierung auf dem Markt, so bleibt nur die Feststellung, dass immer die zuerst untergehen, die Social Network erst gar nicht können, weil sie sich mit allem anderen außer ihrem Markenkern befassen und mit Vorliebe jene verprellen, mit denen sie groß geworden sind. Qype hat genau diesen Weg eingeschlagen und ging erwartungsgemäß unter.
Wie schwer es mit der Akzeptanz durch fleißige Contentlieferanten in diesem schwierigen Geschäftsfeld ist, durfte Yelp erfahren, die vor einigen Jahren mit dem Eintritt in den europäischen Markt auf der Basis bezahlter Scouts grandios gescheitert sind und jetzt mit dem Mut der Verzweiflung versuchen, diese Bauchlandung mit dem Kauf von Qype zu kompensieren, das erfuhren schon die VZ-Netzwerke und myspace ganz bitter, Xing ist gerade dabei, es zu erfahren und vielleicht erfährt es irgendwann sogar Facebook. Sag niemals nie.
Qype hat es nun hinter sich. Lange dauerte das Siechtum an, ein bemitleidenswert langsames Sterben fast wie in Selbstaufgabe, und jetzt hat endlich jemand den Stecker gezogen.Und ja, zuletzt war es nur noch gruselig: Der ganze Auftritt war nur noch ein hoffnungslos chaotischer, die Funktionsfähigkeit völlig mangelhaft, mit zu vielen Bugs an zu vielen Stellen, die über Monate bis Jahre nur flickwerkartig behoben wurden, viel Sinnvolles ging ins Leere oder gab es gar nicht erst. Das ganze Portal war in der Performance quälend langsam, weil furchtbar aufgebläht, aber trotzdem gab es viele kleine nützliche Funktionen nicht oder nicht mehr – ebensowenig wie eine lebendige Community, die man durch Ignoranz und Nachlässigkeit ohne Not über Jahre hinweg völlig ausgetrocknet hat.
Der letzte Tritt auf die schon am Boden liegende Bewertungsplattform war zuletzt der inhaltliche Overkill durch massenhaft neue Beiträge neu registrierter Legastheniker, die sich nur noch in Gestammel erschöpften – legga legga mjam mjam pizzaaaa diggaaaaaa – und die nur noch jedem Soziologen als Beweis für die erschreckende Bildungsarmut breiter Schichten der Gesellschaft dienen können. In einem Ausmaß, das fassungslos macht.Und weil das an Elend noch nicht reicht, gesellten sich in Scharen auftretende Fakeaccounts aller möglichen Inhaber hinzu, die den Bewertungsdurchschnitt ihrer eigenen ranzigen Butzen in den Rang von Sterneküchen hoben und vor deren Schwarmmanipulation die Verantwortlichen komplett in die Knie gingen, indem sie sich ausschließlich darauf verließen, dass die wenigen verbliebenen Enthusiasten, die sonst dröhnend angeschwiegen wurden, die notwendige Qualitätssicherung durch das Melden der unzähligen verdächtigen Beiträge übernahmen.
Fast alle, die ich gerne gelesen habe, weil sie großartige Schreiber sind, haben inzwischen ihre Profile rasiert oder gleich ganz gelöscht. Es sind nur noch ein paar wenige, die immer noch weitermachen. Meinen Respekt. Kann ich nicht. Kein Bock mehr.
Qype wird gerade von Yelp übernommen. Technisch muss die Migration eine mächtige Herausforderung sein, denn dieses Yelp ist das exakte Gegenteil. Die Plattform funktioniert einwandfrei, ist in der Umsetzung ein Musterbeispiel sorgfältiger Programmierung, kommt aber mit ihren aufgesetzt-fröhlichen Animateurdarstellern, eine sich selbst „Elite“ (kein Scherz) nennende Riege von Vielschreibern und den rigoros gefilterten Beiträgen so klinisch normiert öde daher, dass mir jegliche Lust abgeht, für so etwas den Contentlieferanten nach dem AAL-Prinzip (Andere Arbeiten Lassen) zu mimen.
Das war’s. Wieder zu lang geworden.
Egal.
Licht aus.
Vorhang zu.
Vorhang auf.
Was Neues beginnt.
Ich hab jetzt nen Blog.
Schön hier.
Epilog
Wem es hier gefällt, dem gefällt es vielleicht auch bei anderen: