
Lidl, Supermarkt, Weißensee
Lidl! Ich habe mich ja schon gewundert, welcher auf einem LSD-Trip hängengebliebene Wahnsinnige dir die Auszeichnung „Händler des Jahres 2010“ verliehen hat, mit der du seit letztem Jahr großflächig wirbst. Überwachung, Stasi-Style, Gängelung, Mobbing, ich erschrecke mich jedesmal, wenn ich der Zeitung oder in einem Gewerkschafts-Schwarzbuch von einer neuen Sauerei lesen muss. Wobei es seit einigen Monaten ruhig geworden ist, ich staune. Wahrscheinlich waren die Medien zu beschäftigt mit Bösewichtern wie dem (Ar)Schlecker, dem Beowulff oder irgendwelchen arabischen Despoten.
Aber es kommt noch schlimmer, der LSD-Irre hat nochmal zugeschlagen, gleich dreimal, denn jetzt wirbst du seit neuestem mit dem Triple Händler 2009, 2010, 2011. Was ist da los? Liegt das Gremium, das die Auszeichnung verleiht, völlig umnachtet in der Komaabteilung für hoffnungslose Fälle in der Charité, ist mit Flugreisen-Upgrades, Mallorca-Urlauben und günstigen Krediten gefügig geschmiert oder besteht es ausschließlich aus den völlig senilen Großmüttern deines Vorstands?
Mensch Lidl, das ist doch so glaubhaft wie eine Bank, die plötzlich ihr Herz für sozial Schwache entdeckt, eine Prenzlmutter, die Propaganda für Plastikspielzeug macht oder so was Irres wie Fahrradfahrer auf Radwegen statt auf dem Bürgersteig. Sowas gibt es einfach nicht und niemand glaubt dir. Ich meine, du bist nicht Mutter Theresa, du bist Lidl. Nicht Luke Skywalker, nein, Darth Vader. Man kauft bei dir weil du billig bist, alles andere, sowas Verrücktes wie Menschlichkeit oder soziales Engagement gar, nimmt man dir einfach nicht ab. No way. Sorry. Du bist Lidl.
Was ich auch kaum glauben kann, auch wenn es direkt vor mir steht, ist das Gorilla-Imitat mit Zwickauer-Terrorzelle-Gedächtnisfrisur, das vorgibt, in deiner Filiale für Sicherheit zu sorgen, mit seinem schwarzen verwaschenen Security-Shirt mit Rasierklingen unter den Achseln in den Gängen rumschlurft und die Kunden mißtrauisch beäugt. Man merkt ein wenig zu deutlich, dass da einer das untere Ende der Karriereleiter oder eher die oberste Sprosse der Hoffnungslosigkeit erreicht hat, wenn er hier bei Lidl in der Roelckestraße statt im Adagio am Potsdamer Platz an der Tür stehen muss. Aber lustig ist er, der Pseudo-Gorilla, wenn er so gewollt finster den Gang entlang äugt als befände er sich mitten in einer DEA-Mission in einem Lüftungsschacht und wird gleich eine Opiumhölle ausräuchern, nur weil man länger als drei Sekunden am Milchregal steht oder, noch besser, wenn er mit verkniffener Miene in seinem heiligen Ernst die Kassiererinnen vom Palettenstapel zur Kasse scheucht, wenn mal mehr als drei Kunden an der Kasse anstehen. Ugga Ugga. Ich Gorilla – Du Kasse.
Comedy. Man müsste künstliche Lacher aus den Lautsprechern laufen lassen und dann Eintritt verlangen. Es ist nicht zu glauben, wenn man es nicht selber gesehen hat.
Darüber hinaus gilt auch hier bei diesem Lidl an der Kasse leider das Prinzip des Hochleistungssports. Es muss mindestens dreimal so schnell gescannt werden wie der Kunde Waren in den Wagen zurückräumen kann. Erst dann türmt sich ein einsturzgefährdetes Warengebilde an der immer viel zu kleinen Ladefläche, die den Kunden an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringen soll, weil die ganze Schlange hinter ihm nur auf ihn wartet, ihn, der nie hinterherkommt mit dem Einräumen. Grenzerfahrung. Arbeiten unter Termindruck. Akkord. Künstlicher Streßzustand.
Ich führe aber einen Guerillakrieg dagegen, denn der Scanvorgang lässt sich wohltuend entschleunigen, wenn man taktisch zwischen die Waren immer mal wieder Obst zum Abwiegen platziert. Dann gibt es oft mal ein Fotofinish mit der Kasse. Manchmal kaufe ich massenhaft Obst obwohl ich gar keines haben will, meiner Gemütsruhe wegen. Das wiederum geht dann so ins Geld, dass ich eigentlich beim viel teureren Kaisers-Markt einkaufen könnte, wo man die Kunst des entspannten Kassenscannens noch beherrscht und pflegt, ohne dass man Obst zwischenschmuggeln muss.
Aber bei Lidl in der Roelckestraße gibt es auch einen Rebellen, einen Kassierer, der ebenfalls guerillaartig die Kunst der Entschleunigung in diese fürchterliche Atmosphäre der Hast einschleust. Starker Auftritt eines Entspannten. Manchmal harre ich stundenlang im Laden aus, immer wieder wie bei Pacman dem Gorilla-Imitat ausweichend, nur um bei diesem Hort der Sympathie an der Kasse bezahlen zu dürfen. Wenn das rauskommt wird er wahrscheinlich gefeuert, weil er sich standhaft weigert, den Einkauf für den Kunden so unangenehm wie möglich zu machen.
Aber, und jetzt werde ich versöhnlich, Lidl, dein neues Angebotsregal, in dem du die Reste der nicht nachgefragten Sonderartikel zum Schleuderpreis verramscht – im Volksmund „Hartz IV-Regal“ genannt – ist erste Sahne, spart eine Menge Geld und hilft über den Monat, wenn es mal knapp wird.
Und ich finde es darüber hinaus gut, dass du Berichten zufolge deine Mülltonnen nicht abschließt, damit sich Bedürftige, für die selbst dein Hartz IV-Regal unerschwinglich ist, sich an den weggeworfenen und oftmals noch brauchbaren Waren bedienen können, auf die sie in ungemütlichen Zeiten wie diesen angewiesen sind. Ja, richtig gelesen, auch wenn es nie jemand sehen und glauben will: Es gibt in dieser Stadt viele, die aus Mülltonnen leben, man schaut nur gerne weg, wenn ein Gefallener bei brütender Hitze schale Apfelsaftreste aus dem Mülleimer schlürft, in den man kurz zuvor noch sein verrotztes Taschentuch geworfen hat, oder als Häufchen Lumpen bei Minusgraden im Schnee vor dem Supermarkt sitzt. Also Augen auf und vielleicht mal einen Euro lockermachen, ein Getränk oder ein belegtes Brötchen kaufen, auch wenn das Geld noch so chronisch knapp ist.
Vielleicht hast du, Lidl, ja für die Mülltonnenpolitik alle diese bizarren Auszeichnungen bekommen, wer weiß, ich will’s wenigstens hoffen. Dann, und nur dann, wäre ich versöhnt.